Palliativmedizin

Einführung

Matthias Girke

Letzte Aktualisierung: 04.03.2015

Die palliative Patientenbetreuung ist abhängig vom Menschenverständnis: Verfolgt sie ausschließlich eine suffiziente Symptomkontrolle bei einem sterbenskranken Patienten bis zu seinem als final aufgefassten Lebensende oder entwickelt sie zukunftsorientierte Perspektiven in der Therapie, seelischen Begleitung und geistigen Unterstützung? Der Therapiebedarf des palliativen Patienten zielt auf drei Dimensionen: Er benötigt nicht nur eine symptomorientierte Therapie, sondern wünscht sich auch in der Palliation einen salutogenetischen Therapieansatz. Er braucht seelische Unterstützung in Phasen von Zweifel, Ablehnung und existenzieller Angst vor der Erkrankung, die oftmals dem depressiven, hoffnungslos gestimmten Erleben zugrunde liegen. Schließlich lebt jeder Mensch und erst recht der palliativ erkrankte Patient von Perspektive und Hoffnung, also von der Zukunftsfähigkeit des Menschen. Hier ergeben sich Parallelen zu Schwangerschaft und Geburtsaugenblick: Auch beim Sterben eines Menschen sprechen  wir einerseits vom unterschiedlich langen Sterbeprozess, andererseits vom Todesaugenblick, und sehen eindrückliche innere Entwicklungen, Selbstwerdung und damit Autogenese in diesen komprimierten Phasen der Behandlung, die auf eine Art geistiger Geburt weisen.

Umgekehrt liegen in diesen drei Bereichen die wesentlichen Gründe für den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe. Er resultiert selten aus den nicht mehr kontrollierbaren somatischen Symptomen der palliativen Erkrankungsphase. Häufiger sind es Depressionen, seelische Verzweiflung und auch das Gefühl, anderen Menschen zur Last zu fallen. Die entscheidende Ursache ist aber der Sinnverlust: Wozu das ganze Leid, wenn doch nur der Tod kommt und dann „alles erledigt“ ist. Hier ist eine sinnstiftende Patientenbegleitung unverzichtbar. Sie ist selbstverständlich abhängig von den Auffassungen der Behandler zu Sterben und Tod, von deren ethischer Kompetenz in den Entscheidungsfindungen und damit von der inneren Entwicklung. Nicht nur der Patient entwickelt sich in und durch die Krankheit, auch die Behandler brauchen eine aktiv ergriffene professionelle und ethische Entwicklung. So bestehen die Grundsäulen der Patient-Arzt-Beziehung in der Palliativmedizin nicht nur in der professionellen Kompetenz und empathischen Beziehungsgestaltung, sondern auch im therapeutischen Engagement. Sobald der Patient diesen Willen zum Heilen erfährt, fühlt er sich unterstützt auf seinem therapeutischen Weg. Oftmals schwinden dann Überlegungen zur aktiven Sterbehilfe. Sie wird als untaugliches Instrument der Problemlösung und als unzureichende Antwort auf den Sinn- und Perspektivverlust empfunden. Assistierter Suizid und Sterbehilfe erscheinen dann im Sinne von Klaus Dörner als „tödliches Mitleid“.  

Durch die medikamentöse Therapie lassen sich in der modernen Palliativmedizin die meisten Symptome kontrollieren. Durch Arzneimittel der Anthroposophischen Medizin haben wir darüber hinaus wesentliche Instrumente für die medikamentöse Therapie in der palliativen Erkrankungsphase. Eine herausragende Bedeutung haben die Äußeren Anwendungen der anthroposophischen Krankenpflege und Physiotherapie. Die Kunsttherapien öffnen sich dem seelischen Erleben und wecken die innere Aktivität des Patienten.  In der Gesprächstherapie werden Fragen nach den individuellen Werten, biographischen Zusammenhängen und Zielsetzungen aufgegriffen und Instrumente für den Umgang mit dem wechselhaften seelischen Befinden entwickelt. Diese schließen die spirituellen und religiösen Überzeugungen des Patienten ein, berühren Fragen des Schicksals, der Nachtodlichkeit und der wiederholten Inkarnationen.

Durch das Zusammenwirken der therapeutischen Berufsgruppen entsteht eine therapeutische Gemeinschaft, die immer wieder erstaunliche Unterstützung und Hilfestellung auch in ausgesprochen leidbelasteten Situationen entwickeln kann. Oftmals konnten Patienten mit aktivem Sterbewunsch dadurch neue Perspektiven entwickeln und diese besondere Zeit komprimierter Fähigkeitsentwicklung aktiv nutzen. Das entscheidende Merkmal der anthroposophischen Palliativmedizin ist die Orientierung an der Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit des Menschen, dessen seelisches und geistiges Wesen nicht an die leiblichen Grenzen von Geburt und Tod gebunden ist.

Aus diesen drei Dimensionen des Menschen folgen die Grundsätze ethischer Entscheidungsfindung hinsichtlich der aktiven Sterbehilfe. Auf der Ebene der somatischen Betrachtung scheint sich eine leid- und schmerzbelastete Erkrankungsphase „endlich“ zu beenden, Patient und Behandler gehen davon aus, dass nun „Erlösung“ eingetreten sei. Bezieht man die seelische und geistige Ebene mit ein, so ergeben sich vollständig andere Gesichtspunkte. Hier geht es nicht nur um die Autonomie der Entscheidungsfindung, sondern vor allem um eine gründliche Hinterfragung der Autonomiekompetenz von Patient und Behandler: Sind wir ausreichend für eine nicht nur somatische, sondern geisteswissenschaftliche Urteilsfindung befähigt und kompetent? Ist also auf der Seite der Behandler die ethische Professionalität in gleichem Maße gewachsen wie die medizinisch-professionelle? Sieht man den Menschen als ein geistbegabtes Wesen, das auf Zukunftsfähigkeit und Entwicklung auch vor dem Hintergrund des sterblichen Leibes veranlagt ist, so nimmt man durch den aktiv induzierten Tod dem Patienten das Wesentlichste, das aus der Krankheit als Entwicklung und geistige Errungenschaft entstehen kann, erzeugt durch die scheinbare Terminierung von Schmerz und Leiden u.U. einen neuen Schmerz, ein Gefühl des Verlustes, der Entbehrung und des Leidens. Hieraus ergibt sich also keine „Erlösung“ vom Leid, sondern nur seine Verlagerung, ggf. sogar lediglich Dislokation in einen dafür nicht vorgesehenen Bereich. Aus dem Beobachten der oftmals tiefgreifenden Entwicklungen in der palliativen Erkrankungsphase entsteht die Gewissheit der Selbstwerdung im Sterbeprozess und das Bild des Todes als Geburtsaugenblick: „Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist“, wird es von Novalis beschrieben. In drei Jahrzehnten ärztlicher Tätigkeit begegnet man zahlreichen Patienten mit Sterbewunsch. Allerdings ist es die nahezu durchgängige Erfahrung, dass sich dieser durch die Therapie, seelische und geistige Unterstützung in neue Sinnsetzungen verwandelt, kraft des Durchtragens und neu errungener Autonomie. Der Patient „ist“ dann nicht krank, sondern „hat“ die Erkrankung, erlebt sich selbst als autonomiebefähigt auch in der palliativen Erkrankungsphase. Ihm ist dadurch keinesfalls seine Würde genommen, indem er in „unwürdigem Leiden“ seine Zeit verbringen muss, sondern er gewinnt diese in besonderer Weise sogar in dieser Erkrankungsphase. Aktive Sterbehilfe und assistierter Suizid empfinden Würdelosigkeit im Leiden und verkennen, dass jedem Menschen in jeder Lebenslage ausnahmslos Würde seines Menschseins zukommt und auch –so die durchgängige Erfahrung – durch eine gute palliative und hospizliche Behandlung auch für den sterbenskranken Menschen erlebbar werden kann. Eine Palliativmedizin, die sich am Menschen und seiner Entwicklung auch in der späten Erkrankungsphase orientiert, kann sich nicht gegen die Individualität durch aktive Sterbehilfe im Sinne eines „humanitären Tötens“ richten. Selbstverständlich kann sehr selten bei einem nicht kontrollierbarem Beschwerdebild die palliative Sedierung erforderlich sein, eine aktive Sterbehilfe gehört allerdings auch in dieser Situation nicht zu den notwendigen Instrumenten.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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