Künstlerische Therapien – Fachbereich Malerei

Dagmar Brauer

Letzte Aktualisierung: 18.07.2018

Der folgende Text basiert auf den Leitlinien zur Behandlung mit Anthroposophischer Kunsttherapie (BVAKT)® für die Fachbereiche Malerei, Plastik, Musik, Sprachgestaltung. Stand Februar 2017. Herausgegeben vom Berufsverband für Anthroposophische Kunsttherapie e.V. (BVAKT), Herdecke, Deutschland (1).

Die Anthroposophische Medizin versteht sich als integrales Konzept, das die konventionelle Medizin durch diagnostische und therapeutische Verfahren erweitert. Zu diesen zählt die Anthroposophische Kunsttherapie mit ihren Fachbereichen Malerei (und Zeichnen), Musik (und Gesang), Plastik und Sprachgestaltung. Ihr Ziel ist die ganzheitliche Ressourcenaktivierung und Förderung der Selbstregulation auf geistiger, seelischer, funktionaler und körperlicher Ebene durch Mittel und Wirkungen der Künste sowie durch die therapeutische Beziehung.

Ausgangspunkte der Malerei und des Zeichnens sind die Darstellung, Kommunikation und Gestaltung des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst und der Welt. Ihre Grundelemente sind Farben, Flächen und Linien; genutzt werden vorrangig Aquarell- und Pflanzenfarben, Kohle, farbige Kreiden und Graphitstifte. Im Rahmen der Übungsbehandlungen werden jeweils die spezifischen Mittel und Wirkungen des Malens und Zeichnens als Regulativ eingesetzt. Dieser Einsatz erfolgt mit ausdrucksbezogener oder eindrucksbezogener Hauptrichtung unter Anwendung aktivierender, handlungs-, erlebnis- und erkenntnisorientierter Verfahren. Im therapeutischen Prozess kommt es zu kommunikativen, beziehungsorientierten sowie der Selbsterkenntnis und der Entwicklung von biografischer Kompetenz dienenden Phasen.

Für die allgemeinen wie für die fachbereichs-/methodenspezifischen Maßnahmen bedarf es spezieller Qualifikationen des Maltherapeuten. Diese werden jeweils im Rahmen einer anerkannten Ausbildung erworben.

Berufsspezifische Diagnostik

Zur allgemeinen kunsttherapeutischen Diagnostik gehören der Ersteindruck des Patienten sowie die phänomenologisch orientierte viergliedrige und die darauf aufbauende dreigliedrige Betrachtung nach den Kriterien der anthroposophisch fundierten Menschenkunde. In der fachspezifischen Diagnose wird der Befund in Bezug auf Konstitution, Temperament, Wesensgliederfunktionen und Störungsebene nach der Krankheitslehre der Anthroposophischen Medizin zusammengefasst. In der Anamnese werden parallele Therapien, biografische Besonderheiten, Beschwerdebild und evtl. Vorerfahrungen mit künstlerischen Medien aufgenommen.

Die kunsttherapeutische Eingangsdiagnostik basiert im Fachbereich Malerei auf der Wahrnehmung des Befindens, der Beschwerden, der biografischen Situation und der ärztlichen Diagnose(n), der Wahrnehmung der Handlungen und Fähigkeiten des Patienten im Werkentstehungsprozess, zwei oder mehreren freien bzw. vorgegebenen Arbeiten sowie der Zusammenfassung der wahrgenommenen Vereinseitigungen, Defizite, Ressourcen und Zukunftsaspekte.

Zur diagnostischen Betrachtung des Werkentstehungsprozesses wird wahrgenommen, wie das Bild entwickelt wird, was vom Patienten dabei erlebt wird, wie der Patient sein Tun und sein Werk beurteilt, wie die Beziehung zwischen Patient und Therapeut ist, welche Essenz sich aus dem Gesamtprozess ziehen lässt.

Zur viergliedrigen diagnostischen Werkbetrachtung wird wahrgenommen: der physische Bildanteil als äußerer Aspekt, das Qualitäts- und Beziehungsgefüge des Bildorganismus als Aspekt dynamischer Vorgänge, der Empfindungsanteil des Bildes als seelischer Aspekt, der Anteil des Ich als zentrale Gestaltungskraft und geistiger Aspekt, die Störungsebene im Zusammenwirken der vier Bildanteile, Dominanzen bzw. defizitäre Gestaltanteile des Bildes im Sinne krankheitstypischer Ausprägungen, Zukunftsaspekte und individuelle Intentionen des Ich.

Therapeutischer Ansatz

Künstlerische Therapien basieren auf der Wechselbeziehung zwischen Patient, Therapeut und schöpferisch-künstlerischem Prozess bzw. Werk.
Die Mittel und Prozesse der Malerei regen z. B. beim häufig gewählten Einsatz von nass-in-nass vermalten Aquarellfarben die seelische Ausdrucks- und Schwingungsfähigkeit und die Handlungsfähigkeit an, sensibilisieren die Wahrnehmungsfähigkeit; Anspannung kann zu Entspannung werden. Weitere Übungen nutzen im Zeichnen und Formenzeichnen das bewusste Gestalten der Linie: Mit rhythmischen Bewegungen und der Polarität von Hell und Dunkel können Orientierungs- und Konzentrationsstörungen gebessert werden. Zeichnen erfordert den differenzierten Einsatz von Sehsinn, Bewegungsorientierung und Gleichgewichtssinn und Feinmotorik. Je nach Zeichenart wird mehr die Sinnestätigkeit oder mehr das seelische Empfinden angesprochen. Die Stimmungen der Farb- und Strichqualität werden sinnlich erfasst und mit innerem Erleben, Intentionen und Motiven verbunden.

Verwandlungen, die im Werk gelingen, wirken auf das Selbsterleben, Selbstwertgefühl, die Selbstgestaltungskompetenz in der Krankheitsbewältigung, Verhaltensänderung und Lebensgestaltung sowie auf die Gesamtverfassung des Patienten zurück.

Wirkprinzip

Im Rahmen der Übungsbehandlungen werden jeweils die spezifischen Mittel und Wirkungen der Malerei und des Zeichnens eingesetzt zur

  • Harmonisierung und Stabilisierung vegetativer Funktionen,
  • Stärkung der Lebenskräfte,
  • Verbesserung des Zugangs zum Innengefühlsleben,
  • Verbesserung der Selbstwahrnehmung, der Verdeutlichungsfähigkeit über künstlerisches Arbeiten, der Beziehungsfähigkeit zum Werk und zur Umgebung und dessen/deren Veränderungen,
  • Verbesserung der Sinnesfunktionen,
  • Ausgleich von Vereinseitigungstendenzen und Defiziten,
  • Entwicklung und Verbesserung der Problemfokussierungs- und Handlungsfähigkeit zwischen Strukturieren und Fließen, Abgrenzen und Verbinden.

Die grundsätzliche Wirkung des Malens beruht menschenkundlich darauf, „[…] dass hineingedrängt werden in den Ätherleib die inneren Impulse des astralischen Leibes […], erlebte Stimmungen wie Trauer, Freude, Charakteristisches, Ausdrucksvolles […].“ (2, S. 59)

Evaluation

Künstlerische Therapien sind in einer Reihe medizinischer Leitlinien vertreten, in Deutschland beispielsweise in mehr als 12 sog. S3-Leitlinien. Damit sind für diese Therapien eine systematische Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege zu den relevanten klinischen Fragestellungen vorausgegangen sowie eine Beschreibung zum methodischen Vorgehen und eine Bewertung zur Feststellung ihres Evidenzgrades. Die Anthroposophischen Kunsttherapien wurden prospektiv durch die Anthroposophic Medicine Outcome Study (AMOS) evaluiert (3). Hier erfuhren Patienten eine ambulante Erstversorgung mit Anthroposophischer Medizin inklusive Anthroposophischer Kunsttherapie bei Angststörungen (4), Depression (5), Asthma (6), Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung und anderen chronischen Erkrankungen (7). Die evaluierten Behandlungen waren sicher und durch klinisch relevante Messinstrumente wurde die nachhaltige Besserung der Symptome und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität abgebildet. Diese Wirksamkeit konnte für Kinder und Erwachsene jeden Alters und für jede der o. g. Diagnosen in einer Follow-up-Untersuchung nach 48 Monaten bestätigt werden.

Im Rahmen einer multimodalen Interventionsbehandlung bei Brustkrebspatientinnen mit Cancer Fatigue wurde ein neuer Fragebogen zur Anthroposophischen Maltherapie erfolgreich getestet (8).

Literaturverzeichnis

  1. Unter Verwendung von: Leitlinie zur Behandlung mit Anthroposophischer Kunsttherapie (BVAKT)® für die Fachbereiche Malerei, Plastik, Musik, Sprachgestaltung. Stand Februar 2017. Herausgegeben vom Berufsverband für Anthroposophische Kunsttherapie e.V. (BVAKT), Herdecke, Deutschland.
  2. Steiner R. Kunst im Lichte der Mysterienweisheit. GA 275. Vortrag vom 30.12.1914. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1990. 
  3. Hamre HJ, Kiene H, Ziegler R, Tröger W, Meinecke C, Schnürer C, Vögler H, Glockmann A, Kienle GS.  Overview of the Publications From the Anthroposophic Medicine Outcomes Study (AMOS): A Whole System Evaluation Study. Global Advances in Health and Medicine 2014;3(1):54-70. https://doi.org/10.7453/gahmj.2013.010[Crossref]
  4. Hamre HJ, Witt CM, Kienle GS, Glockmann A, Ziegler R, Willich SN, Kiene H. Anthroposophic therapy for anxiety disorders: a two-year prospective cohort study in routine outpatient settings. Clinical Medicine: Psychiatry 2009;2:17-31.
  5. Hamre HJ, Witt CM, Glockmann A, Ziegler R, Willich SN, Kiene H. Anthroposophic therapy for chronic depression: a four-year prospective cohort study. BMC Psychiatry 2006;6:57.[Crossref]
  6. Hamre HJ, Witt CM, Kienle GS, Schnürer C, Glockmann A, Ziegler R, Willich SN, Kiene H. Anthroposophic therapy for asthma: a two-year prospective cohort study in routine outpatient settings. Journal of Asthma and Allergy 2009;2:111-28.
  7. Hamre HJ, Witt CM, Kienle GS, Meinecke C, Glockmann A, Willich SN, Kiene H. Anthroposophic therapy for children with chronic disease: a two-year prospective cohort study in routine outpatient settings. BMC Pediatrics 2009;9:39.[Crossref]
  8. Kröz M, Didwiszus A, Gelin-Kröz B, Pranga D, Reif M, ten Brink F, Zerm R, Gutenbrunner C, Büssing A. Reliability of the inner correspondence and harmony questionnaire with painting therapy (ICPTh). European Journal of Integrative Medicine 2016;8(Suppl. 1):30.[Crossref]

Literaturempfehlungen

Rolff H, Gruber H (Hg). Anthroposophische Kunsttherapie. Grundlagen und Aspekte. Berlin: EB-Verlag Dr. Brandt; 2015.

Brauer D, Asmussen A, Müller U, Gonsior E. Anthroposophische Maltherapie in der Onkologie. Der Merkurstab 2009;62(4):373-377.

Hamre HJ, Witt CM, Glockmann A, Ziegler R, Willich SN, Kiene H. Anthroposophische Kunsttherapie bei chronischen Erkrankungen: eine vierjährige prospektive Kohortenstudie. Der Merkurstab 2009;62(2):113-121.

Frieling E. Therapiewege im Formenzeichnen: Ein Beitrag zur Anthroposophischen Kunsttherapie. Bad Homburg: Verlag für Akademische Schriften; 2008.

Hambrecht EL, Zucker A. Diagnose und Therapie durch Licht, Finsternis und Farbe bei sexuellem Missbrauch und Multipler Sklerose: Fallstudien aus der Licht-Finsternis-Farbarbeit der anthroposophischen Medizin. Dürnau: Kooperative Dürnau; 2006.

Gutknecht Katharina, Biesenthal-Matthes S. Maltherapie mit Hepatitis-C-Erkrankten. Eine deskriptiv menschenkundliche Betrachtung von Phänomenen im künstlerisch-therapeutischen Malen. Der Merkurstab 2004;57(3):204-209.

Gutknecht K. Ohne Engel geht es nicht: Kunsttherapeutische Erfahrungsberichte aus dem medizinisch-klinischen, dem heilpädagogischen und dem sozialpädagogischen Bereich. Dornach: Verlag am Goetheanum; 2004.

Hamre HJ, Glockmann A, Kiene H. Wirksamkeitsbeurteilung der Anthroposophischen Kunsttherapie: Einzelfallstudien eingebettet in eine prospektive Kohortenstudie. Der Merkurstab 2004;57(3):194-203.

Marian F, Petersen H-J, Voigt W. Die Wandlung im maltherapeutischen Prozess. Der Merkurstab 2002;55(5):380-392.

Mees-Christeller E. Heilende Kunst und künstlerisches Heilen: Anregungen für Kunsttherapeuten. Dornach: Futurum Verlag; 1996.

Altmaier M. Der kunsttherapeutische Prozeß. Stuttgart: Verlag Urachhaus; 1995.

Collot d' Herbois L. Licht, Finsternis und Farbe in der Maltherapie. Dornach: Verlag am Goetheanum; 1993.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin