Assistierter Suizid und aktive Sterbehilfe

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Palliativmedizin der Medizinischen Sektion am Goetheanum

Letzte Aktualisierung: 10.04.2021

Immer mehr Länder liberalisieren den assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe durch rechtliche Regelungen. Während die Legalisierung des assistierten Suizids als Möglichkeit selbstbestimmten Sterbens angesehen wird, erinnert die aktive Sterbehilfe an düstere Zeiten der Euthanasie und Verfügbarkeit menschlichen Lebens.

Hinter jedem Todeswunsch und jeder Suizidabsicht steht eine Not. Diese zu erkennen, ist Aufgabe einer differenzierten Begutachtung und qualifizierten Beratung. Folgt der Suizidwunsch einer hintergründigen Not, so handelt es sich nicht um eine freie, autonomiegelenkte Entschlussbildung, sondern um eine notgetriebene Handlungsabsicht. Entscheidend ist dabei, ob es gelingt, diese Not zu erkennen und Abhilfe zu schaffen – dann können sich neue Lebensperspektiven durch eine vertrauensvolle und kompetente Begleitung eröffnen.

Autonomie und Menschenbild

Autonome Entscheidungen brauchen eine ausreichende Urteilskompetenz. Im Falle des Sterbewunsches umfasst diese nicht nur Einschätzungen der Lebens- und Leidenssituation und des sozialen Umfeldes, sondern ebenso spirituelle Sichtweisen, Wertevorstellungen und religiöse Überzeugungen. Spirituelle Erfahrungen sind zwar in der palliativen Erkrankungsphase häufig, werden aber nicht oft thematisiert, weil sie den Rahmen der medizinischen Versorgung sprengen. Entsprechend beklagen Ärztinnen und Ärzte zu Recht eine unzureichende Schulung und Kompetenz, um hier situationsgerecht ins Gespräch kommen zu können. Die leibliche Endlichkeit bedeutet im Erleben zahlreicher Menschen nicht das Ende der seelischen und geistigen Existenz: Das vor dem Todesaugenblick Liegende ist sichtbar, das hinter dieser Schwelle Befindliche demgegenüber verhüllt. Entsprechend reichen kulturelle und philosophische Überzeugungen von der nihilistischen Endlichkeit bis zu großen Perspektiven der Nachtodlichkeit und des Wiederkommens (Reinkarnation). In der palliativen Erkrankungsphase entstehen oftmals unerwartete Kräfte der Krankheitsbewältigung und des inneren Wachstums, die zu neuen Lebensüberzeugungen führen können und den Sterbewunsch in eine neue Dankbarkeit, noch leben zu dürfen, transformieren.

Sterbewunsch und Lebenssinn

Eine kompetente Entscheidung umfasst die Kenntnis der palliativmedizinischen Behandlung, die Einbeziehung des Menschenumkreises und die Thematisierung spiritueller Perspektiven (spiritual care). Durch fachkundige Beratung, Entwicklung und Förderung menschlicher Beziehungen sowie palliativmedizinische Begleitung verliert der Sterbewunsch meistens seine Dringlichkeit. Ärzte, Pflegende und Therapeuten der Anthroposophischen Therapierichtung und Medizin fühlen sich einer integrativ orientierten Palliativmedizin verpflichtet, die den Patienten in seinem leiblichen, seelischen und geistigen Wesen erfasst und begleitet. Dazu braucht es fachkundige Unterstützung im Kontext der oftmals belasteten sozialen Beziehungen des sterbewilligen Patienten. Diesem werden wir nicht durch den assistierten Suizid im Sinne des »tödlichen Mitleids« (Klaus Dörner) gerecht, sondern durch praktizierte Menschlichkeit. Auch schwierige Erkrankungssituationen sind durch geeignete therapeutische Intervention meist ausreichend beeinflussbar.

Menschliches Sterben kennt Entwicklung, inneres Wachstum (posttraumatic growth), fördert unerwartete Kräfte in der Situations- bzw. Krankheitsverarbeitung und verstärkt Resilienz gegenüber Optionen suizidaler Terminierung.

Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren sind weder der assistierte Suizid noch die aktive Sterbehilfe als »Selbstentwertung gebrechlichen Lebens« (Giovanni Maio) eine Aufgabe therapeutischer Berufe und eine »Leistung« palliativer oder hospizlicher Betreuung. Zum Heilen bestimmte Hände sollten nicht töten oder die Selbsttötung Anderer durch Beihilfe unterstützen.

Es ist zu wünschen, dass anstelle von Sterbehilfeorganisationen mehr Angebote der Suizidprävention entstehen, die psychosoziale Beratung und frühe umfassende palliativmedizinische Begleitung ermöglichen. Für die derzeitige Diskussion in Deutschland gilt: Angesichts der mit dem assistierten Suizid verbundenen und bei guter Begleitung vermeidbaren Sterblichkeitszunahme ist der Gesetzgeber verpflichtet, dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes resultierenden Lebensschutzauftrag des Staates nachzukommen.


Dr. med. Matthias Girke
(Innere Medizin, Palliativmedizin, Diabetologie; Medizinische Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach,  Schweiz)

Jörg Eberhardt  
(DEAA, MBA Anästhesist, Palliativmedizin, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Anthroposophischer Arzt GAÄD; Ulm, Deutschland)

Viola Heckel M.A.
(Musik- und Gesangstherapeutin, Psychiatrie, Psychosomatik, Innere Medizin, Onkologie / Palliativmedizin, Klinik Arlesheim, Schweiz)      

Ingrid Hermansen 
(Eurythmy therapy;  Vanbrugh Community Pain Management Clinic, United Kingdom)

Christine Kolbe-Alberdi 
(Pflegedienstleitung; Gemeinschaftshospiz Christophorus Berlin, Deutschland)

Burkhard Matthes 
(Hämatoonkologie; Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Berlin, Deutschland)

Dr. med. Stefan Obrist 
(Allgemeine Innere Medizin FMH; Basel, Schweiz)     

Julia Polter M.A. 
(Pfarrerin der Christengemeinschaft; Staff Chaplain, ACPE Certified Educator Candidate, Brigham and Women’s Hospital [Harvard Medical School Teaching Hospital] Boston, USA)

Carola Riehm 
(Gesundheits- und Krankenpflege, Pflegedienstleitung, Fachkraft und Kursleitung für Palliativpflege; Filderklinik, Stuttgart, Deutschland)

Dr. med. Johannes Rosenbruch 
(Innere Medizin, Palliativmedizin; Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin LMU-Klinikum, München, Deutschland)

Ulrike Steurer 
(Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und Palliativmedizin; Hamburg, Deutschland)

Dr. med. Irene Stiltz 
(Allgemeinmedizin; Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung [SAPV], Hamburg, Deutschland)

Dr. med. Philipp von Trott, M.Sc.
(Innere Medizin, Palliativmedizin; Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe Berlin) 

Linda Wobbe 
(Kunsttherapie Onkologie / Palliativmedizin, Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, Deutschland)

Neues aus der Forschung

Misteltherapie in Ergänzung zur Standard-Immunbehandlung bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs weist auf verbesserte Überlebensrate hin
Die Immuntherapie mit PD-1/PD-L1-Inhibitoren hat die Überlebensraten von Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) erheblich verbessert. Die Ergebnisse einer Studie mit realen Daten (RWD), in der die zusätzliche Gabe von Viscum album L. (VA) zur Chemotherapie untersucht wurde, haben einen Zusammenhang mit dem verbesserten Überleben von Patienten mit NSCLC gezeigt - und zwar unabhängig von Alter, Metastasierungsgrad, Leistungsstatus, Lebensstil oder onkologischer Behandlung. Zu den Mechanismen gehören möglicherweise synergistische Modulationen der Immunantwort durch PD-1/PD-L1-Inhibitoren und VA. Diese Ergebnisse weisen auf die klinische Bedeutung einer zusätzlichen VA-Therapie hin; sie besitzen jedoch naturgemäss Limitationen, da es sich um eine nicht-randomisierte Beobachtungsstudie handelt. Die Studie ist in Cancers frei zugänglich publiziert: 
https://doi.org/10.3390/cancers16081609.

 

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