Anthroposophische Pharmazie

Einführung

Wolfram Engel

Letzte Aktualisierung: 20.10.2015

Grundlagen

Jede Therapierichtung stützt sich neben den nichtmedikamentösen Behandlungsmethoden auf spezifische Arzneimittel. So wie die Anthroposophische Medizin bei Diagnose und Therapie immer die verschiedenen Ebenen der menschlichen Existenz einbezieht (Körper, Leben, Seele, Geist), so ist es die Aufgabe der Anthroposophischen Pharmazie, Arzneisubstanzen nicht nur als tote Stoffe zu betrachten, sondern auf deren Bildungsprozesse und Potentiale zu achten. Die Herkunft des Wortes Substanz (lateinisch substare : 'darunter stehen') weist bereits darauf hin, dass die physischen Aspekte der Erscheinung nur ein Teil des Ganzen sind. Das Wesen einer Substanz, das „Wesentliche“, ist demnach „über“ dem Sichtbaren des Stoffes zu suchen, aber als mit ihm eng verbunden zu denken.

Die Anthroposophische Pharmazie schlägt deshalb einen umfassenden Weg ein. Sie basiert zum einen auf der aktuellen, naturwissenschaftlichen Forschung und Lehre (universitäres Wissen), möchte aber dieses durch eine geisteswissenschaftliche Erweiterung ergänzen.

Wegweisend für dieses vertiefte Substanzverständnis sowie eine spirituell erweiterte Prozesskunde ist die Erkenntnis, dass sich Materie und Geist gegenseitig bedingen. „Erkennen lernen dasjenige, was äußerlich materiell ist, als Geistig-Seelisches, darauf kommt es an. … Dasjenige aber, was notwendig ist, das ist: in der Zukunft nicht in abstrakter Weise ein Materielles und ein Geistiges zu unterscheiden, sondern in dem Materiellen selber das Geistige zu suchen, dass man es beschreiben könne als das Geistige zugleich, und in dem Geistigen den Übergang ins Materielle, die Wirkungsweise im Materiellen zu erkennen.“ (1)

Natur – Mensch – Arzneimittel

Die äußere Natur bringt mineralische Substanzen, pflanzliche und solche aus dem Tierreich entlang festgelegter Entstehungsprozesse hervor, an denen das Leben, seelische Faktoren sowie Geistartiges in spezifischer Form beteiligt sind. Naturstoffe, die zu Arzneimitteln verarbeitet werden, sind demnach zur Ruhe gekommene Prozesse, die in sich das Potential tragen, auf lebendige Organismen zu wirken. Diese Wirkung bestmöglich zu entfalten und bei definiert hohem Qualitätsstandard in eine geeignete Darreichungsform zu bringen, ist ein zentraler Gegenstand der Anthroposophischen Pharmazie. So klar dachte schon der bekannte Arzt und Universalgelehrte Paracelsus. Seine Charakterisierung von Arzneimitteln, von denen er die meisten wohl noch selbst herstellte, kann man so wiedergeben: „Was die Natur veranlagt hat und der Mensch durch seine Einsicht zu Ende bringt.“ Damit ist sehr viel gesagt, denn die Natur arbeitet konstant und zuverlässig, solange man sie nicht unrechtmäßig stört, kommt aber immer nur bis zu einem bestimmten Punkt. Was der Mensch daraus macht, ist die Folge seiner Erkenntnis. Das angestrebte Ziel (hier „Ende“) bestimmt die konkrete Vorgehensweise. Hierin liegt ein Verständnisschlüssel für die verschiedenen Ausrichtungen innerhalb der Pharmazie und Medizin.

Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Die immer stärker materialistisch ausgerichtete Pharmazie wurde im Laufe der Jahrhunderte statt von einer umfassenden „Einsicht“, die neben dem Stofflichen auch weitere Ebenen einbezieht, zunehmend von der einengenden Ansicht geleitet, die Wirksamkeit von Pflanzen auf so genannte „Inhaltsstoffe“ reduziert zu denken (z. B. die Alkaloide Hyoscyamin und Scopolamin aus der Tollkirsche – Atropa belladonna). In der logischen Folge wurde das Ziel verfolgt, diesen „Wirkstoff“ zu isolieren und wenn möglich im nächsten Schritt sogar vollsynthetisch zu gewinnen. Wenn dieser als „naturidentisch“ gehandelte Soff dann zusätzlich noch chemisch modifiziert wird (z. B. zum Butylscopolamin), resultiert daraus in der Regel eine pharmakologisch stark zugespitzte und in diesem Sinne vereinseitigte Wirkung. (Dies hat häufig auch ein vielfältigeres Nebenwirkungsspektrum zur Folge.) Durch die Vollsynthese bzw. eine Derivatisierung geht der Bezug zur ursprünglichen Pflanze verloren. Das Wesen einer Pflanze drückt sich ganz entschieden in der charakteristischen, pharmakologisch wirksamen Stofflichkeit aus, erschöpft sich aber nicht darin. Ausgestaltung von Wurzeln, Blättern und Blüten, Gesamterscheinung, Größe, Farbe, Geruch, Geschmack, Stellung innerhalb der Familie, natürlich bevorzugter Standort und Lebensgemeinschaft usw. sind für das Verständnis und die Wirksamkeit einer Pflanze ebenfalls bedeutsam und ermöglichen erst eine umfassende Erkenntnis ihrer Heilbeziehung zum Menschen.

Der Zusammenhang zwischen Natur und Mensch, von dem man in früheren Jahrhunderten noch Kenntnis hatte, ist eine wesentliche Grundlage, auf der die Anthroposophische Medizin aufbaut, weil hierin der Ausgangspunkt für Krankheit und Heilung liegt. „Krankheit entsteht durch die Veränderung eines Prozesses vom Menschlichen zum Naturhaften. Heilung bedeutet umgekehrt ein Vermenschlichen des Natürlichen.“ (2, S. 90)

Die gemeinsame evolutive Entwicklung des Menschen zusammen mit der gesamten außermenschlichen Natur birgt in sich das Potential, dass Natursubstanzen durch den richtigen Herstellungsprozess – abgestimmt auf das therapeutische Ziel, entweder bei einem eher typischen oder auch bei einem ganz individuellen Krankheitsgeschehen – verarbeitet werden können. Dies soll zu einer Steigerung, aber auf keinen Fall zu einer Zerstörung der Substanz oder Entfremdung gegenüber dem Menschen führen.

Den vom Ansatz her prinzipiellen Unterschied zwischen rein chemisch-synthetisch ausgerichteten Arzneimitteln und solchen der Anthroposophischen Therapierichtung formulierte Rudolf Steiner vor Ärzten einmal so: „Es handelt sich also darum, dass man neben den Heilmitteln, bei denen man bloß auf die chemischen Kräfte sieht, die nun einmal in unserer materialistisch gearteten Chemie angeführt werden, auch solche herstellen kann, von denen man sagen kann: Da hinein in dieses Heilmittel ist die Spiritualität der Welt in dieser bestimmten Weise geleitet worden.“ (3)

Qualität

In der Anthroposophischen Pharmazie geht es also darum, Substanzen aus der Natur zu entnehmen und in sehr enger Begleitung durch den Menschen (als Hersteller) durch rational durchschaubare Prozesse zu führen, die die Substanz zu wirksamen und gut verträglichen Arzneimitteln verwandeln.

Hierzu werden Rohstoffe höchster Qualität eingesetzt. Bei mineralischen Ausgangsstoffen nutzt man entweder direkt die verschiedensten Minerale (und Gesteine), die nach dem Identifizieren, Reinigen und Pulverisieren potenziert werden, oder man greift auf diese im Sinne von natürlichen Rohstoffen zurück, um daraus reine Metalle zu erschmelzen, Salze zu kristallisieren und andere anorganische Produkte zu gewinnen. Ein Ziel besteht darin, den Bezug zwischen der Entstehung der ursprünglichen Substanz und dem daraus hergestellten Ausgangsstoff (Ursubstanz) zu erhalten und nicht durch ungewünschte Prozesse technischer oder anderer Art (Recycling bei Metallen) negativ beeinflussen zu lassen.

Pflanzen für Anthroposophische Arzneimittel stammen idealerweise aus dem biologisch-dynamisch geführten Heilpflanzenanbau oder aus zertifizierter Wildsammlung.

Auch bei arzneilich verwendeten Tieren, Tiersekreten oder Organen gelten besondere Anforderungen an die Qualität, die zum Teil über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehen. Neben der Gesundheit der Tiere spielen der Artenschutz und die wesensgemäße Tierhaltung eine große Rolle.

Herstellungsverfahren

Wir verdanken Rudolf Steiner entscheidende und auch nach ca. 100 Jahren noch aktuelle, zukunftsweisende Anregungen zur Erneuerung und Erweiterung der Pharmazie. Aus diesen Grundlagen gingen ganz neuartige Herstellungsverfahren hervor, die von den Pharmazeuten der Pioniergeneration – Walther Cloos, Oskar Schmiedel, Wilhelm Pelikan, Hans Krüger, Wilhelm Spieß, Rudolf Hauschka und weitere (4) – ab den 1920er Jahren in die Praxis umgesetzt und seitdem immer weiter entwickelt und ausgebaut wurden.

Zu den Besonderheiten bei den mineralischen Ursubstanzen zählen das Verfahren der Metallspiegelherstellung (z. B. Aurum metallicum praeparatum), die Vegetabilisierung von Metallen (z. B. Urtica Ferro culta) und diverse Mineralische Kompositionen (z. B. Solutio Siliceae comp.).

Pflanzen werden mit verschiedenen Medien (vor allem Wasser, Ethanol-Wasser-Mischungen, Glycerol, Pflanzenölen) angesetzt und unterschiedlichen Wärmegraden ausgesetzt. Je nach Art der Pflanze und dem therapeutischem Ziel extrahiert man

  • bei Raumtemperatur ( Mazeration ),
  • erwärmt bei milden 37 °C (Digestio),
  • übergießt die Pflanze mit kochendem Medium (Infus),
  • kocht kräftig aus (Decoct)
  • oder stellt ein Destillat her.

Das trockene Erhitzen von Pflanzen führt

  • zu einem pulverförmigen Röstprodukt (Tostatio),
  • zur Verkohlung (Carbo) oder
  • zu einer Asche (Cinis).

Neben der Auswahl der richtigen Wärmestufe spielt die Differenzierung nach dem verwendeten Pflanzenteil der Arzneipflanze eine wichtige Rolle. Die Blüte (Flos) steht für andere Qualitäten als z. B. das Blatt (Folium), die Wurzel (Radix) oder die ganze Pflanze (Planta tota).

Eine ganz wesentliche und spezifische Verarbeitung von Pflanzen in der Anthroposophischen Pharmazie ist das Rhythmisieren wässriger Pflanzenansätze, was vor allem bei den WALA-Ansätzen und den Rh-Tinkturen der Weleda zur Anwendung kommt. Immer morgens und abends erfolgen sich wiederholende Prozessschritte, wie Erwärmen und Abkühlen, Bewegen, Belichten usw. Diese Prozesse unterliegen kosmischen Einflüssen und führen zu einer Stabilisierung der Ansätze.

Mistelzubereitungen verschiedener Wirtsbäume sind ebenfalls ein Spezifikum und werden schon seit Jahrzehnten in der Krebstherapie genutzt. Die im Winter und die im Sommer geernteten Misteln werden – mit herstellerspezifischen Besonderheiten – zu getrennten Säften verarbeitet und in einem besonderen Maschinenprozess vereinigt. Den Mischprozessen kommt als eigenes pharmazeutisches Herstellungsverfahren auch bei anderen Arzneimitteln, z. B. Hepatodoron, eine große Bedeutung zu.

Bei den Substanzen aus dem Tierreich seien besonders die von Säugetieren gewonnenen Organpräparate, verschiedene Gifte und Sekrete und die Arzneimittel aus dem Reich der Insekten genannt (Apis, Formica).

Ausblick

In einer Ansprache aus dem Jahr 1924 drückte Rudolf Steiner seine Vorstellung zur Pharmazie am Beispiel der Verarbeitung von Blei mit Honig und Zucker folgendermaßen aus: „Und sehen Sie, es handelt sich darum, überall mit dieser Denkungsart einzudringen nicht bloß in die Substanz, sondern in die Prozesse, in das was geschieht. Es ist nicht richtig, zu sagen, Blei ist ein Heilmittel für dies oder jenes. Es handelt sich darum, zu wissen, wie der Prozess sich abgespielt hat, ob wir ein Rohmittel haben oder ob wir die Substanz irgendeinem Prozess unterworfen haben. Die Behandlungsart der Stoffe, das ist im Grunde genommen das Wesentliche. Und die Denkungsweise müsste aufhören, im Stoffe als solchem das Heilmittel zu suchen. Man müsste sich immer mehr sagen: Liegt eine Krankheit vor, so liegt ein Prozess vor, der nicht umspannt wird von dem Ganzen des menschlichen Organismus. Will man ein Heilmittel, dann muss man ihn stärken, man muss den Menschen solchen Prozessen unterwerfen, die man genau durchschaut. Darauf kommt es an.“ (5)

Die Anthroposophische Pharmazie verfolgt die Aufgabe, diese Art von zeitgemäßen Arzneimitteln für die Therapie zur Verfügung zu stellen. Sie forscht, entwickelt, optimiert und fertigt auf der Grundlage eines erweiterten Menschen-, Natur-, Substanz- und Prozessverständnisses, das neben der naturwissenschaftlichen Basis immer die geisteswissenschaftliche Erweiterung anstrebt.

Neben der Verordnung durch Ärzte und andere Therapeuten spielt die Beratung in der Apotheke im Rahmen der Selbstmedikation eine wichtige Rolle. Die Arzneimittel der Anthroposophischen Medizin werden in allen gängigen Darreichungsformen zur innerlichen, parenteralen und dermalen Anwendung angeboten. Der Zulassungsstatus industriell gefertigter Arzneimittel reicht von „frei verkäuflich“ über „apothekenpflichtig“ bis hin zu „verschreibungspflichtig“. Individuelle Rezepturen werden auf Verordnung auch in öffentlichen Apotheken hergestellt.

In mehreren Ländern wurden Fachgesellschaften und Vereinigungen gegründet, in denen zu vielen Themen im Bereich der Anthroposophischen Pharmazie gearbeitet wird, z. B.

  • GAPiD: Gesellschaft Anthroposophischer Apotheker in Deutschland e.V. (6),
  • VAEPS: Verband für Anthroposophisch Erweiterte Pharmazie in der Schweiz (7),
  • Farmantropo: Associação Brasileira de Farmácia Antroposófica (8).

Die nationalen Organisationen haben sich zu einem internationalen Dachverband – IAAP: International Association of Anthroposophic Pharmacists (9) – zusammengeschlossen. Der IAAP ist Herausgeber des Anthroposophic Pharmaceutical Codex (10).

Weiterführende Literatur

  • Meyer U, Pedersen PA (Hg). Anthroposophische Pharmazie. Berlin: Salumed Verlag; 2017.

Arzneimittelverzeichnisse der Hersteller:

Literaturverzeichnis

  1. Steiner R. Die Sendung Michaels. GA 194. Vortrag vom 30.11.1919. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1994.
  2. Girke M. Innere Medizin. Berlin: Salumed Verlag; 2010.
  3. Steiner R. Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin. GA 319. Vortrag vom 29.8.1924. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1994.
  4. Gesellschaft Anthroposophischer Apotheker in Deutschland (Hg). Pioniere der Anthroposophischen Pharmazie. Acht biographische Skizzen. Norderstedt: Verlag Books on Demand GmbH; 2011.
  5. Steiner R. Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene. GA 314. Ansprache vom 21.04.1924. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989.
  6. Verfügbar unter http://www.gapid.de (19.10.2015).
  7. Verfügbar unter http://vaeps.ch (19.10.2015).
  8. Verfügbar unter www.farmantropo.com.br (19.10.2015).
  9. Verfügbar unter http://www.iaap.org.uk (19.10.2015).
  10. Verfügbar unter http://www.iaap.org.uk/downloads/codex.pdf (19.10.2015).

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin