Anthroposophische Medizin im Kontext der Evidenzbasierten Medizin

Johannes Weinzirl, Matthias Girke, Georg Soldner

Letzte Aktualisierung: 06.09.2018

Evidenzbasierte Medizin und Wissenschaft

Diagnostische und therapeutische Maßnahmen bedürfen der Evaluation und wissenschaftlichen Evidenz. Die von David Sacket und anderen begründete Evidence Based Medicine (EBM) gründet sich auf drei Säulen:

  • Wissenschaftlicher Stand der klinischen Forschung (externe Evidenz)
  • Individuelle ärztlich-therapeutische Erfahrung (interne Evidenz)
  • Werte und Bedürfnisse des Patienten (Patientenpräferenz)

Die externe Evidenz basiert, ausgehend von der Expertenmeinung (Evidenzstufe 5), auf unterschiedlichen Studiendesigns: über klinische Fallbeobachtungen, randomisierte und kontrollierte Studien bis hin zu Metaanalysen (Evidenzstufe 1). Diese Studien dokumentieren Ergebnisse von Behandlungen an definierten Kollektiven. Als solche sind sie eine wertvolle Basis, um prospektiv die potenzielle Wirksamkeit einer therapeutischen Maßnahme in einer gegenwärtigen Anwendung einzuschätzen. Ob diese allerdings wie vermutet eintritt, muss durch die ärztliche Beurteilung des Einzelfalles entschieden werden. Gerade die oftmals große Anzahl von bedauerlicherweise nutzlos behandelten Patienten ( Number Needed to Treat) verlangt angesichts der möglichen unerwünschten Nebenwirkungen (Number Needed to Harm) die klinische Beurteilung im individuellen Behandlungsverlauf. Keine vorliegende Studie kann das Eintreten der erhofften positiven Wirksamkeit im individuellen Behandlungsfall mit Sicherheit voraussagen. Schließlich muss die Patientenpräferenz berücksichtigt werden. Viele Patienten wünschen sich zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns ein ihren Wertevorstellungen und ihrer Lebenssituation entsprechendes Behandlungskonzept. Während die externe Evidenz sich auf Ergebnisse in der Vergangenheit bezieht und die Beurteilung des Einzelfalls (interne Evidenz) die gegenwärtige Behandlung evaluiert, werden durch die Patientenpräferenz Zielsetzungen für den kommenden, also zukünftigen Behandlungsverlauf formuliert.

Evidenz in der Anthroposophischen Medizin

In der Anthroposophischen Medizin werden alle drei Säulen der evidenzbasierten Medizin angestrebt. Eine wachsende Anzahl von Studien dokumentiert die gegenwärtig vorhandene externe Evidenz auf Grundlage von experimentellen und klinischen Studien. Zusätzlich findet sich eine breite Forschung in den Bereichen Prävention, Versorgungsforschung, Whole-System-Evaluations, sowie Gesamtanalysen zu Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Sicherheit der Anthroposophischen Medizin (siehe auch: https://medsektion-goetheanum.org/forschung/).

Im Bereich der internen Evidenz beteiligen sich Forscher aus dem anthroposophisch-medizinischen Kontext maßgeblich an der Erarbeitung von Konzepten wie der Cognition Based Medicine (CBM) und erarbeiten Methoden für die systematische Einzelfallbeurteilung (siehe auch: https://medsektion-goetheanum.org/forschung/system-assessment-reviews-research-methods/methodology-and-case-reporting/).

Im sogenannten „Vademecum-Prozess“ werden ärztliche Erfahrungsberichte aus der Praxis systematisch evaluiert und indikationsbasiert der Kollegenschaft zur Verfügung gestellt. Die jeweiligen Evidenzen am Einzelfall können erneut zu klinischen Studien führen (siehe auch: https://www.vademecum.org/).

Für die Säule der Patientenpräferenz werden vor allem qualitative Studien, meist in Form von Fragebögen oder Interviews, durchgeführt mit dem Ziel, die Perspektive und Autonomie der Patienten zu stärken.

Nur wenn sich externe und interne Evidenz an den Bedürfnissen der Patienten vereinen, kann die Kluft zwischen Wissenschaft und praktischer Heilkunst überbrückt werden. Neben der Wirksamkeitsforschung und Entwicklung qualitativer Forschungsmethoden bemühen sich anthroposophische Wissenschaftler und Ärzte darum, ihr komplexes Menschenbild mit seinen körperlichen, funktionellen, psychischen, sozialen, ökologischen und spirituellen Dimensionen abzubilden (siehe auch: https://medsektion-goetheanum.org/forschung/basic-concepts-and-anthropology-medical-history/medical-anthropology/).

Der Beitrag der Anthroposophischen Medizin zum Gesundheitswesen (CARE)

Die Anthroposophische Medizin wird gegenwärtig in über 80 Ländern ambulant und stationär praktiziert. Neben einer Vielzahl an ärztlichen und therapeutischen Praxen finden sich 22 Kliniken, Sanatorien und klinikähnliche Einrichtungen in Deutschland, Großbritannien, der Schweiz, Schweden, Holland, Italien, den USA und Brasilien. Niederlassungen und ein Vertrieb anthroposophischer Arzneimittel existieren in den meisten europäischen Ländern sowie in Nord- und Südamerika, Russland, Südafrika, Ägypten, Japan, Australien und Neuseeland. In der Schweiz und in Deutschland übernimmt etwa die gesetzliche Krankenversicherung die anfallenden Kosten für den Aufenthalt in einer anthroposophischen Klinik, in anderen Ländern gelten unterschiedliche Bedingungen.

Anthroposophische Ärzte durchlaufen die übliche allgemein- bzw. fachärztliche Ausbildung. Die Weiterbildung zum anthroposophischen Arzt findet in den meisten Ländern in Form von mehrjährigen, berufsbegleitenden Kursen bzw. International Postgraduate Medical Trainings (IPMT) statt. An einzelnen Orten, wie etwa der Universität Witten/Herdecke, werden Ausbildungsmöglichkeiten innerhalb des Medizinstudiums angeboten.

Die Anthroposophische Medizin beteiligt sich in vielen Ländern aktiv an der Mitarbeit und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens im Sinne einer integrativen Gesundheitsversorgung. Sie arbeitet in einem breiten, interprofessionellen Netzwerk für ein Gesamtkonzept, das dem Wesen des Menschen nach Leib, Seele und Geist gerecht wird. Sie entwickelt Programme zu Gesundheitsförderung und Prävention, engagiert sich in Fachgremien an der Leitlinienarbeit, in Bürger- und Patienteninitiativen und arbeitet repräsentativ innerhalb der Europäischen Union (EUROCAM, ECHAMP, ELIANT). Dabei werden versorgungsrelevante Schwerpunkte – sog. CARE Gebiete – in internationalen interprofessionellen Teams erarbeitet.

Die aktuellen Themenschwerpunkte (CARE Gebiete, Arbeitszeitraum 2016–2023) der anthroposophisch-medizinischen Bewegung sind:

  • CARE I: Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit
  • CARE II Umgang mit Fieber und Infektionserkrankungen
  • CARE III: Psychosomatische Erkrankungen mit besonderer Berücksichtigung von Schlaf- und Angststörungen, Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung
  • CARE IV: Onkologie
  • CARE V: Palliativmedizin, Schmerztherapie und Begleitung des sterbenden Patienten

Die aktuellen CARE-Gebiete orientieren sich an der Biografie des Menschen. Sie beginnen mit Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit, führen über die häufigen fieberhaften Erkrankungen zu den seelischen Herausforderungen, die sich besonders in der Mitte des Lebens stellen und erreichen mit den onkologischen Erkrankungen und der Palliativmedizin das Ende des Erdenlebens. In allen Gebieten werden bewährte Erfahrungen und Konzepte berufsübergreifend erarbeitet und der Öffentlichkeit in Form von Praxis, Lehre und Forschung zur Verfügung gestellt.

Verantwortungsstrukturen und Arbeitsweise der anthroposophisch-medizinischen Bewegung

Die weltweiten Mitarbeiter der anthroposophisch-medizinischen Bewegung arbeiten in selbständiger Verantwortung in Forschung, Entwicklung, Lehre und der praktischen Umsetzung der Anthroposophischen Medizin sowie darüber hinaus in der Koordination der länder- und berufsspezifischen Zusammenarbeit, Organisation von Kongressen, Seminaren, Veranstaltungen und in der Öffentlichkeitsarbeit.

Die internationale Koordination dieser vielfältigen Tätigkeiten findet sich in der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum (Dornach, CH), die derzeit von Dr. med. Matthias Girke, Facharzt für Innere Medizin und seinem Stellvertreter Georg Soldner, Kinder- und Jugendarzt geleitet wird (siehe: www.medsektion-goetheanum.org). Gemeinsam mit der Sektionsleitung bildet die Internationale Koordination für Anthroposophische Medizin (IKAM) ein interdisziplinäres Organ, dem derzeit 30 Vertreter der unterschiedlichen Lebens- und Berufsfelder angehören. Neben Ärzten, Pflegenden, Hebammen, Therapeuten und Heilpädagogen arbeiten Repräsentanten der Forschung, Patienten- und Klinikverbände, der Arzneimittelhersteller sowie Koordinatoren für die Studentenarbeit, die Aus- und Weiterbildung und Öffentlichkeitsarbeit in IKAM zusammen. Dabei wird ein modernes, nicht-hierarchisches Leitungsverständnis entsprechend der Herzfunktion des Menschen zwischen Wahrnehmung und Aktivität, Peripherie und Zentrum angestrebt (1).

Der Ausbau und die Sicherung der politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausübung der Anthroposophischen Medizin ist die zentrale Aufgabe der Internationalen Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften (IVAA). Wesentliche Entscheidungen auf Sektionsebene werden alljährlich im Anschluss an die Medizinische Jahreskonferenz gemeinsam mit den Vorständen der IVAA beraten und beschlossen (siehe: www.ivaa.info).

Literaturverzeichnis

  1. Glöckler M, Heine R. Die anthroposophisch-medizinische Bewegung. Verantwortungsstrukturen und Arbeitsweisen. 4. Aufl. Dornach: Verlag der Förderstiftung Anthroposophische Medizin im Verlag am Goetheanum; 2015.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin