Übung und Meditation

Matthias Girke

Letzte Aktualisierung: 17.10.2018

Der meditative Erkenntnisweg hat die sechs Übungen zu seiner Grundlage (siehe „Innere Entwicklung und Schulung“) und dient der inneren Entwicklung des Therapeuten (1, 2, 3). Die Meditation setzt innere Ruhe voraus. Die Betriebsamkeit der alltäglichen Gedanken- und Gefühlswelt mit ihren Sorgen und Nöten muss schweigen, um einen inneren Raum entstehen zu lassen. Auch die „Alltagspersönlichkeit“ in ihrer Abhängigkeit von Erfolg, Karriere, Misserfolg, Glück und Leid bleibt als äußere Schale des eigentlichen Ich-Wesens vor der Schwelle dieses Raumes. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Entspannen, das sich aus dem Schweigen der stressbelasteten Bewusstseinsinhalte der Alltagswelt ergibt und die Seele zur Ruhe bringt, sondern es kommt darauf an, das innere Wesen des Menschen zum Geistigen hin zu öffnen, aus der Welt der Erscheinungen zu der Welt des geistig Wesenhaften zu kommen, also von einem „Leben der Seele in Gedanken“ hin „zu einem Leben in geistiger Wesenheit“ (4, S. 38). Dadurch können sich eine vertiefte Beziehung zum Patienten, Inspirationsfähigkeit für die Therapie und eine Verstärkung des therapeutischen Willens entwickeln.

Die Bedeutung der Meditation für die therapeutische Befähigung und die Heilungsprozesse
Für die gegenwärtige Medizin ist der Zusammenhang zwischen innerer Entwicklung und medizinischer Praxis ungewohnt. Es sind zwei Bereiche, die sich nicht vermischen dürfen und dennoch eng miteinander verbunden sind. Wie wirken nun diese beiden „getrennten“ Welten zusammen? Welche Bedeutung hat der meditative Erkenntnisweg für die therapeutische Praxis?

Den Menschen und seine Erkrankung verstehen

Eine erste Antwort ergibt sich durch die Begegnung mit dem Patienten. Oftmals empfinden wir eine Art Ohnmacht, wenn sich ein Patient mit komplexer Erkrankung vorstellt und sich nicht der richtige, zur Diagnose oder Therapie führende Gedanke einstellt. Umgekehrt erfüllt es uns mit Freude und Dankbarkeit, wenn wir mit der richtigen Inspiration die nächsten diagnostischen und therapeutischen Schritte gestalten. Wie werden wir nun für die alltäglichen Entscheidungen inspiriert? Oftmals lassen sich notwendige Erkenntnisse nicht erzwingen. Vielmehr bedarf es eines intensiven Bemühens, aber auch Loslassen-Könnens, damit sich der gesuchte Gedanke einstellt. Lösungen kommen überraschend und nicht unbedingt in demjenigen Augenblick, wo wir sie mit aller Kraft suchen. Erkennen verlangt eine geistige Aktivität, hat aber auf der anderen Seite mit Gnade zu tun. Wir müssen innerlich zur Ruhe kommen, von uns absehen lernen, die Seele verehrungsvoll öffnen und hören lernen, damit sich die Inspiration einstellt. Es ist eine gnadenvolle Erlösung aus dem bedrückenden Suchen nach einer Lösung, wenn der erhoffte Gedanke erscheint. Wie werden wir also inspirationsfähig in der therapeutischen Beziehung zum Patienten? Ist diese Eignung in unterschiedlichem Grade einfach gegeben oder lässt sie sich entwickeln?

In diesem Zusammenhang steht eine erste Frucht meditativer Arbeit: Die meditative Öffnung des Bewusstseins zur geistigen Wesenswelt befähigt den Menschen für die richtigen Einfall zur richtigen Zeit. Rudolf Steiner beschrieb in den Darstellungen für die Lehrer der Waldorfschule, wie sich durch die abendliche meditative Vertiefung am nächsten Tag der hilfreiche Gedanke für die pädagogische Förderung der Schüler einstellt.

Die therapeutische Beziehung entwickeln

Wenn wir uns nur auf das besinnen, was eine wirksame und evidenzbasierte therapeutische Maßnahme bei der diagnostizierten Erkrankung darstellt, so haben wir sicher etwas medizinisch Sinnvolles und Leitlinienkonformes empfohlen, allerdings ohne genaue Kenntnis der Patienten. Diese empfinden eine so gestaltete Patienten-Arzt-Beziehung als „Medizin ohne Ansehen der Person“. Die Frage bezieht sich also nicht nur auf das medizinisch Wirksame, sondern auch auf das für den Patienten „Gute“. Vieles, was medizinisch wirksam ist, ist für den Patienten nicht unbedingt gut. So werden viele Therapien sicher von einem 90-jährigen Patienten anders bewertet als von einem 35-jährigen. Eine für die Anthroposophische Medizin zentrale Meditation bezieht sich deswegen auf diese Thematik und trägt in ihrer ersten Zeile die Frage: „Wie finde ich das Gute?“ (5) In dieser Meditation steht die Wärme im Mittelpunkt. Sie wird deswegen auch oftmals als die „Wärme-Meditation“ bezeichnet.
Die Antwort auf diese Frage verlangt eine intensive Beziehung zum Patienten, der sich in seinem Wesen wahrgenommen fühlen will. Die spirituelle Substanz dieser Wesensbegegnung ist die Liebe, die eben nicht „blind“, sondern sehend macht für das Wesen des anderen. Aus dieser Begegnungsqualität kann sich das allgemein Gültige einer medizinischen Maßnahme an die individuellen Erfahrungen, Sichtweisen, Werte und Bedürfnisse des Patienten „anverwandeln“ (Peter Matthiesen). Ein solcher Weg braucht Mut. Man muss oftmals den sicheren Boden des Üblichen verlassen und einen individuellen Weg finden und gehen. Es stellt sich die Frage: Lässt sich die Begegnungsfähigkeit mit dem Patienten und der Heilermut ausbilden, entwickeln und steigern? Oder ist er bis zu einem gewissen Grad „angeboren“?

Hier zeigt sich eine weitere Frucht der meditativen Arbeit. Sie kann die Beziehungskultur erheblich vertiefen, indem die Aufmerksamkeit nicht nur an äußerlichen Befunden haften bleibt, sondern sich auf das seelisch-geistige Wesen richten lernt. Manchmal erscheint dann während der Patientenbegegnung ein vollständig neuer Aspekt, der sowohl für den Patienten als auch den therapeutisch Tätigen eine unmittelbare und gemeinsame Evidenz gewinnt. Auch hier brauchen wir die Fähigkeit, von uns abzusehen und den anderen Menschen wahrzunehmen. Besonders herausfordernd ist hier die Begleitung des bewusstseinsmäßig eingeschränkten Patienten. Wie finde ich hier die richtige, ethisch begründete Entscheidung? Wie komme ich zu dem auf ihn abgewandelten Impuls „Dein Wille geschehe“?

Ethische Entscheidungsfindung
Hier ergeben sich unterschiedliche Stufen in der ethischen Entscheidungsfindung. Auf einer ersten stehen bekannte Leitlinien, Regeln und das medizinische Fachwissen. Diese haben oftmals eine große suggestive, normative Macht und drängen zu Entscheidungen, die nicht immer das für den Patienten in dieser Situation Gute darstellen. Deswegen kommt es darauf an, auf einer zweiten Stufe der Entscheidungsfindung in eine „Bildgestaltung“ der therapeutischen Möglichkeiten überzugehen. Was ist alles an Möglichkeiten und Alternativen denkbar? Der Vorteil dieses Schrittes ist die Lösung aus einer vorbestehenden Urteilsbildung. Der Nachteil ist, dass damit noch keine Entscheidung gefunden ist. Nun kommt eine dritte, in der klinischen Praxis sehr wesentliche Ebene, die Rudolf Steiner in anderem Zusammenhang die „gesunde Ahnung“ nennt. Wir können inspirationsfähig werden für eine bestimmte Lösung und Entscheidung und haben ein gewisses Evidenzgefühl für die Richtigkeit. Allerdings ist dieses ahnende Fühlen „störanfällig“. Angst, Sorge vor möglichen juristischen Konsequenzen, aber auch Illusionen führen zu Verzerrungen. Es bedarf auch hier eines meditativen Entwicklungswegs, der das Fühlen zum Wahrnehmungsorgan im Sinne der gesunden Ahnung werden lässt. Sie kann dann aus der Inspiration der Lösung zur anfänglichen inspirativen Erkenntnis führen, in der die aufgenommene Lösungsoption geprüft und schließlich – auf der vierten Stufe – „anerkannt“ wird. Dann wird sie eine ethisch begründete Entscheidung, im Idealfall zu einem Handeln aus moralischer Intuition (6). Oftmals wird diese Entscheidung noch sehr vorläufig sein, ja sich im Verlauf sogar als falsch oder zu kurzsichtig herausstellen. Sie entstammt allerdings einem Suchen, welches sich um das für den Patienten Gute bemüht. Wie jede Entscheidung schafft sie Schicksal, indem sich das Tun des Therapeuten mit dem Schicksal des Patienten im guten oder hinderlichen Sinne eng verbindet. Wir brauchen als Therapeuten ein Bewusstsein von diesen Konsequenzen unseres Tuns und die Kraft, mit ihnen umzugehen. Mit der Bezeichnung „Karmawille“ hat Rudolf Steiner auf diese umfassend zu denkende Dimension hingewiesen (3, S. 121-122).

Der Wille zum Heilen: Meditation und therapeutische Wirksamkeit

Eine weitere Wirksamkeit der Meditation bezieht sich auf die therapeutische Praxis: Welche Bedeutung hat meine Einstellung zum Arzneimittel für dessen Wirksamkeit? Hier kommen einige zwischenzeitlich gut dokumentierte Kontexteffekte in Betracht. Sie werden oftmals als Placebowirkungen diskriminiert, sind allerdings kein unspezifisches Wirkprinzip im Sinne von „es möge gefallen“, sondern ein spezifisches – nämlich die therapeutische Einstellung des Arztes oder Therapeuten. Gerade in der Schmerztherapie ist der Anteil der inneren Einstellung von Patient und Therapeut an der Wirksamkeit eines Analgetikums überraschend groß. Wir sollten also keine Pharmakotherapie betreiben, ohne eine Kultur der therapeutischen Einstellung zu den Arzneimitteln zu entwickeln. Arzneimittel dürfen dabei nicht abstrakte molekulare Wirkprinzipien bleiben, sondern wir brauchen zu ihnen eine „freundschaftliche“ Wesensbeziehung. Hierzu müssen wir nicht nur ihre stofflichen Charakteristika kennen, sondern die mit ihnen verbundenen Prozesse und schließlich das sich in ihnen aussprechende Wesen der Substanz. Im Sinne der Schrift „Warum es um das Ganze geht“ von Hans-Peter Dürr (1929–2014) müssen wir feststellen, dass Materie eben nicht aus „Materie“ besteht (7). Substanz als das „darunter Stehende“ hat mehrere Dimensionen (8, S. 91 ff.), die „darüber stehen“ und denen sich der therapeutisch Tätige durch die innere meditative Arbeit verbindet. Wir haben in der Arzneitherapie nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Galenik zu beachten. Wie die erstere offenkundig für die Wirksamkeit entscheidend ist, so auch die zweite. Es macht einen Unterschied, ob Pflegende und Ärzte sich mit den Substanzen verbinden, sie zu ihren verlängerten Händen machen, mit und durch sie therapeutisch wirken, oder ob diese distanziert als Wirkstoffe eingesetzt werden. Die meditative Arbeit steht also in einem direkten Zusammenhang selbst mit der arzneilichen Wirksamkeit. Durch sie entstehen erst diejenigen Kräfte, die medizinisch hilfreich sein können – so beschrieb es Rudolf Steiner in den grundlegenden Darstellungen zur inneren Entwicklung des Arztes (3).

Damit sind drei Ebenen benannt, die sich in einen direkten Zusammenhang mit der meditativen Arbeit stellen. Will man sie nicht nur inhaltlich, sondern qualitativ beschreiben, so stehen sie mit drei zentralen Dimensionen in Verbindung:

  • Die erste Ebene bezieht sich auf die richtige Diagnose. Durch diese lässt sich ein vorher unklarer Symptomenkomplex erhellen und verstehen. Es ist eine Qualität von Licht, die sich in der therapeutischen Beziehung zum Patienten entwickelt.
  • Auf der zweiten Ebene der therapeutischen Beziehung bedarf es Wärme und einer Befähigung zur Liebe, um das Wesen des erkrankten Menschen umfassen wahrzunehmen und die Entscheidungen gemeinsam zu finden, die in dieser Situation „gut“ und nicht nur wirkungsvoll sind.
  • Durch die dritte Ebene der therapeutischen Wirksamkeit wirkt man therapeutisch in die Sphäre des Lebens und der heilenden Lebensprozesse ein. Insofern stehen die drei Qualitäten von Licht, Liebe und Leben wie die „heiligen drei Könige“ der Patienten-Therapeut-Beziehung vor uns, um einen neuen Schritt des Gesundens, also der Menschwerdung oder Autogenese möglich zu machen.

Meditation will mit der inneren Entwicklung des Therapeuten zum Praktischen befähigen und unmittelbar dem erkrankten Menschen helfen. Aus diesem Grunde haben die durch die Anthroposophie geschaffenen Berufe ihre spezifische Berufsesoterik. Für die Medizin liegt eine Gesamtdarstellung bereits vor (9).

Literaturverzeichnis

  1. Glöckler M (Hg). Meditation in der Anthroposophischen Medizin. Ein Praxisbuch für Ärzte, Therapeuten, Pflegende und Patienten. 2. Aufl. Berlin: Salumed Verlag; 2021.
  2. Steiner R. Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13. 30. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989.
  3. Steiner R. Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst. GA 316. 5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2008.
  4. Steiner R. Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10. 24. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1993.
  5. Selg P. Die „Wärme-Meditation“. Geschichtlicher Hintergrund und ideelle Beziehungen. Dornach: Verlag am Goetheanum; 2013.
  6. Steiner R. Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer mordernen Weltanschauung. GA 4. 16. Auf. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1995.
  7. Dürr HP. Warum es ums Ganze geht: Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München: oekom verlag; 2009.
  8. Girke M. Innere Medizin. Grundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin. Kap. IV Arzneimittel. Berlin: Salumed Verlag; 2012.
  9. Glöckler M. Heine R (Hg). Führungsfragen und Arbeitsformen in der anthroposophisch-medizinischen Bewegung. 2. Aufl. Dornach: Verlag am Goetheanum; 2015.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin