Anthroposophische Medizin – Brückenbildung als Integrative Medizin

Johannes Weinzirl, Matthias Girke, Georg Soldner

Letzte Aktualisierung: 06.09.2018

In vielen Ländern wird die Anthroposophische Medizin als komplementäre oder alternative Medizin (CAM) eingestuft. Dies ist insofern richtig, als dass anthroposophische Ärzte und Therapeuten das konventionelle Spektrum der Medizin um komplementäre Ansätze in Diagnostik und Therapie erweitern.

Ältere Medizinanschauungen werden in neuer Form aufgegriffen, etwa die hippokratische Lehre der vier Elemente oder paracelsische Konzepte wie die Tria Principia. Dabei ist nicht die Absicht, zur Praxis dieser alten Lehren zurückzukehren. Diese gilt häufig zurecht als überholt und wissenschaftlich unhaltbar. Es sind die zugrundeliegenden Anschauungen und Konzepte, welche bis heute die gesamte Medizin prägen und in ihrer zeitgemäßen Erneuerung sehr fruchtbar sein können. Dabei wird eine Anknüpfung nicht nur zur konventionellen Medizin, sondern auch zu Richtungen wie der traditionellen Naturheilkunde und Phytotherapie, der Homöopathie, der ayurvedischen oder chinesischen Medizin möglich. Die Anthroposophische Medizin entwickelte von Beginn an jedoch neue diagnostische und therapeutische Konzepte, wie etwa die funktionelle Dreigliederung, das Konzept der vier Wesensglieder des Menschen oder die biographische Anschauung in Jahrsiebten. Eine wissenschaftliche und zeitgemäße Erfassung der Aspekte von Leben, Seele und Geist und die Brückenbildung zwischen Vergangenheit und Zukunft, Ost und West, Natur- und Geisteswissenschaft hat Rudolf Steiner in seiner methodischen Herangehensweise stets angestrebt.

Die Anthroposophische Medizin versteht sich damit von Begründung an als eine Integrative Medizin, was Ita Wegman und Rudolf Steiner 1925 in ihrer Schrift „Grundlegendes zu einer Erweiterung der Heilkunst“ wie folgt formuliert haben:

„Nicht um eine Opposition gegen die mit den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt. […] Allein wir fügen zu dem, was man mit den heute anerkannten wissenschaftlichen Methoden über den Menschen wissen kann, noch weitere Erkenntnisse hinzu, die durch andere Methoden gefunden werden, und sehen uns daher gezwungen, aus dieser erweiterten Welt- und Menschenerkenntnis auch für eine Erweiterung der ärztlichen Kunst zu arbeiten.“ (1, S. 7)

Integrative Medizin im ambulanten und klinischen Bereich

Anthroposophische Kliniken umfassen ein breites medizinisches Spektrum vom Akutkrankenhaus mit gesetzlichem Versorgungsauftrag, über Fach- und Belegkliniken bis hin zu Reha-Einrichtungen. Der integrative Ansatz begründet sich also nicht in einer zusätzlichen Fachrichtung, sondern durchdringt die bestehenden Fachrichtungen – von der Notfallmedizin, über chirurgische und internistische Fächer, bis hin zu Psychosomatik oder Psychiatrie. Patienten erfahren so neben medizintechnischen und schulmedizinischen Verfahren, spezifische Heilmittel, ein ganzheitlich ausgerichtetes Pflegekonzept sowie künstlerische Therapien oder Heileurythmie.

Auch im niedergelassenen Bereich findet sich ein breites Versorgungsnetzwerk der Allgemeinmedizin und anthroposophische Fachpraxen, z. B. in der Kinderheilkunde, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Dermatologie, Orthopädie, Augen- oder Zahnheilkunde. Auch hier schätzen die Patienten die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Therapeuten.

Arzneimittel, Äußere Anwendungen und Therapeutische Verfahren

Die Verordnung von Arzneimitteln – darunter auch Schutzimpfungen, Antibiosen, Psychopharmaka oder Immun- und Chemotherapien – orientiert sich nicht nur an den Leitlinien der evidenzbasierten Medizin und der Vorerfahrungen des behandelnden Arztes, sondern vor allem an der individuellen Situation des Patienten, seinen Erwartungen und Wertevorstellungen. Zur Unterstützung der Heilungsprozesse werden über 2000 speziell hergestellte Heilmittel aus dem mineralischen, pflanzlichen und tierischen Reich angewandt, zumeist in phytotherapeutischer oder potenzierter Form. Die anthroposophischen Arzneimittel werden innerlich als Dilutionen, in Form von subkutanen oder intravenösen Injektionen und Inhalationen appliziert. Zu den bekanntesten pharmazeutischen Herstellern gehören die Unternehmen WELEDA und WALA sowie die speziellen Arzneimittelhersteller für die Misteltherapie.

Neben den Arzneimitteln haben die Äußeren Anwendungen, wie Wickel, Auflagen, Einreibungen, Teil- und Vollbäder, eine hohe therapeutische Bedeutung. Spezielle körpertherapeutische Verfahren und Massageformen werden neben der bewährten Physiotherapie angewandt, etwa die Rhythmische Massage nach Wegman/Hauschka oder die Strömungsmassage nach Simeon Pressel. Künstlerische Therapien umfassen das Therapeutische Plastizieren, die Mal- und Musiktherapie, die therapeutische Sprachgestaltung und die Eurythmietherapie (Heileurythmie). Anthroposophische Psychotherapie und Biographiearbeit sprechen den Menschen in seiner Krankheits- und Schicksalsverarbeitung an. 

Dieses umfangreiche Therapiesystem bewährt sich im ambulanten und stationären Bereich nun seit bald 100 Jahren und gehört gemäß der heutigen Definition des „Consortium of Academic Health Centers for Integrative Medicine“ zu den ersten erfolgreichen Modellen einer Integrativen Medizin:

Integrative Medicine is the practice of medicine and health that reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic and lifestyle approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing. (2)

Die Integration entspricht dem Wesen des Menschen

Umso vielfältiger die therapeutischen Ansätze einer Medizin werden, desto wichtiger ist es, dass diese nicht bloß nebeneinander, sondern tatsächlich in einer sinnvollen Komposition angewandt und erfahren werden können. Wie im Menschen Leib, Seele und Geist miteinander verbunden sind, so wird sich auch eine Integrative Medizin nur bewähren können, wenn ein innerer Zusammenhang und eine gemeinsame Sprache als nachvollziehbare Ratio zwischen den verschiedenen Heilverfahren gefunden werden.

Die Anthroposophische Medizin verfolgt den Ansatz, dass es der Mensch selbst ist, der in seinen Wesensgliedern die verschiedenen Naturreiche, Elemente und künstlerischen Farb-, Klang- und Lautqualitäten vereint. Mit dem Pflanzenreich teilt der Mensch Prozesse des Lebens wie Wachstum, Regeneration oder Fortpflanzung. Mit dem Tierreich verbindet ihn seine Fähigkeit zur leiblichen und seelischen Innenraumbildung, zu Bewegung und Bewusstsein. Kosmische Elemente wie Licht, Wärme oder Luft interagieren mit dem Licht-, Wärme- oder Atmungsorganismus des Menschen und zeigen entsprechende körperliche, seelische und geistige Wirkungen. Jeder Mensch bildet einen einzigartigen Extrakt aus der ihn umgebenden Welt, einen Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos. Es ist diese gemeinsame Sprache zwischen Mensch und Welt, welche die Anthroposophie zu entschlüsseln versucht und dabei anstrebt, die Kluft zwischen den verschiedenen Medizinsystemen und therapeutischen Ansätzen zu überbrücken. Die Sprache der Integration entspricht dem Wesen des Menschen. Das bedeutet aber auch, dass der Mensch nicht nur Brückenbauer einer ganzheitlichen Medizin, sondern selbst zur heilsamen Brücke werden kann. Krankheit kann vor diesem Hintergrund als Desintegration verstanden werden. Heilung als Reintegration.

Zentrale Links

Website der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum mit Hinweisen zu Forschung, Ausbildung, Organisationsstruktur und weiterführenden Links zu den einzelnen Landesgesellschaften: www.medsektion-goetheanum.ch

Weitere Informationen zu dem CARE Prozess und Ergebnisse der Arbeitsgruppen: www.anthromedics.org

Website des Vademecum-Projekts mit aktuell 1.778 Indikationen und 627 Arzneimittelgruppen mit detaillierten Informationen zu Zusammensetzung, Darreichungsform, Dosierung und zugelassenen Anwendungsgebieten und besonderer Berücksichtigung der anthroposophischen Onkologie und Misteltherapie sowie eigenem Portal zu den äußeren Anwendungen der anthroposophischen Pflege: www.vademecum.org
www.pflege-vademecum.de

Verband Anthroposophischer Kliniken mit Darstellung der verschiedenen Einrichtungen und Schwerpunkte: www.anthro-kliniken.de

Consortium of Academic Health Centers for Integrative Medicine: www.imconsortium.org

Literaturverzeichnis

  1. Steiner R, Wegman I. Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. GA 27. 7. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991.
  2. Consortium of Academic Health Centers for Integrative Medicine. In: Rosenthal B, Lisi AJ. A Qualitative analysis of various definitions of integrative medicine and health. Topics in Integrative Health Care 2014; 5(4).

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin