Anthroposophische Psychotherapie - Berufsbild

Johannes Reiner

Letzte Aktualisierung: 18.07.2018

Der Anthroposophischen Psychotherapie liegt das Menschenbild der Anthroposophie Rudolf Steiners zugrunde. Das Besondere, das sie von den herkömmlichen Methoden unterscheidet, ist die Erkenntnis des Menschen als geistiges Wesen, als „Ich“, das die seelischen Eigenschaften des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens führen und leiten lernt. Die Seele verbindet sich mit dem Leib und wirkt auf ihn, wird aber auch von ihm beeinflusst. Die Seele steht damit in wechselseitiger Beziehung zwischen Geist und Leib.

Das Ich ist auf Entwicklung zur selbstbewussten und selbstgestalteten Freiheit angelegt. Unter dieser Maßgabe werden in der Anthroposophischen Psychotherapie unterschiedliche psychotherapeutische Techniken zur Förderung der Selbstwirksamkeit der Individualität angewendet.

Dabei werden zudem aus der anthroposophischen Menschenkunde die Gesetzmäßigkeiten von Leib, Seele und Geist, des Lebenslaufes, das Wissen um Nachtodlichkeit und Vorgeburtlichkeit, die spezifische Psychosomatik mit ihrem Wechselspiel zwischen Leib und Seele, einschließlich der Kraftfelder der Organe, sowie weitere Erkenntnisse berücksichtigt.

Der Erwerb des Titels „Anthroposophischer Psychotherapeut“ setzt eine abgeschlossene Ausbildung als Arzt oder psychologischer Psychotherapeut voraus und ist in einer Anerkennungsordnung geregelt.

Berufsspezifische Diagnostik

In der anthroposophischen Menschenkunde liegen jeder Lebensstufe, die in Jahrsiebten erfasst wird, allgemeine körperliche, seelische und geistige Gesetzmäßigkeiten zugrunde. Die spezifische Diagnostik der Anthroposophischen Psychotherapie orientiert sich an diesen und kann dadurch die individuellen Besonderheiten des einzelnen Menschen im bisherigen Lebensweg, in der Gegenwart und in einer zukünftigen Weiterentwicklung erfassen.

Hierbei sind die körperlichen Veränderungen in Kindheit und Jugend zwangsläufig, die seelischen Entwicklungsmöglichkeiten in der Erwachsenenzeit haben eine große Variationsbreite und die geistige Entwicklung des Menschen ist individuell und von eigener Initiative abhängig.

Therapeutischer Ansatz

Wesentlich über die reine Selbsterfahrung hinausgehend – wie in den psychotherapeutischen Ausbildungen gefordert –, ist für die Anthroposophische Psychotherapie der Therapeut. Er ist geschult, in seelischen Phänomenen die zugrundeliegenden Gestaltungs- und Bildekräfte zu sehen, ihre Wirksamkeit auf leibliche und seelische Vorgänge zu verstehen und die Selbstgestaltungsfähigkeit des Menschen zu fördern.

Er wendet vor diesem Hintergrund unterschiedliche psychotherapeutische Techniken an. Durch den bewussten Blick des Therapeuten auf die Gestaltungsfähigkeit, die Sinnhaftigkeit und die Freiheitsmöglichkeit des Menschen wird ein seelischer Raum geschaffen, der das Vertrauen in die eigenen Entwicklungskräfte bei Menschen fördert. In der Haltung des Therapeuten lebt das Vertrauen auf die Entwicklungskräfte der Persönlichkeit. Sie schafft eine Anwesenheit von Gestaltungskräften und erzeugt beim Klienten (Patienten) den Eindruck, angenommen, gesehen und verstanden zu werden.

Wirkprinzip

Das Wirkprinzip der Anthroposophischen Psychotherapie ist der Entwicklungsraum, den der im Hinblick auf Freiheit, Selbstgestaltungsfähigkeit sowie auf leibliche, seelische und geistige Wirksamkeiten geschulte Therapeut im therapeutischen Gespräch entstehen lässt. Diese Haltung des Therapeuten schafft eine Anwesenheit von Gestaltungskräften und erzeugt beim Klienten oder Patienten das Gefühl, im Vertrauen auf seine eigenen Entwicklungskräfte angenommen, gesehen und verstanden zu werden.

Evaluation

Es liegen eine Reihe von Kasuistiken in Form von Therapieverläufen vor, die diese Förderung der Entwicklungskräfte darstellen.

Darüberhinausgehende wissenschaftliche Therapiestudien sind in Planung. 

Literaturempfehlungen

Klünker WU, Reiner J, Tolksdorf M, Wiese R. Psychologie des Ich - Anthroposophie, Psychotherapie. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2016.

Treichler M. Sprache - Gespräch – Psychotherapie. Der Merkurstab 2013;66(3):227-233.

Lievegoed B. Der Mensch an der Schwelle. Biographische Krisen und Entwicklungsmöglichkeiten. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2012.

Treichler R. Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf. Stufen, Störungen und Erkrankungen des Seelenlebens. 7. Aufl. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben: 2012.

Dekkers A. Psychotherapie der menschlichen Würde. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2012.

Reiner J (Hg.). In der Nacht sind wir zwei Menschen - Arbeitseinblicke in die anthroposophische Psychotherapie, mit Beiträgen von 20 Autoren. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2012

Klünker WU. Die Empfindung des Schicksals - Biographie und Karma im 21. Jahrhundert. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2011.

Klünker WU. Anthroposophie als Ich-Berührung. Dornach: Verlag am Goetheanum; 2010.

Klünker WU. Die Antwort der Seele - Psychologie an den Grenzen der Ich-Erfahrung. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2007.

Treichler M. Sprechstunde Psychotherapie: Krisen - Krankheiten an Leib und Seele. Wege zur Bewältigung. 3. Aufl. Stuttgart: Urachhaus; 2007.

Reiner J. Welchen Einfluss haben Antidepressiva auf das Wesen des Menschen? Der Merkurstab 2006;59(5):403-406.

Treichler M. Wunden, die die Seele schlägt: Psychosomatisches Krankheitsverständnis und Therapieansätze in der Anthroposophischen Medizin. Heidenheim: Amthor-Verlag; 2006.

Dekkers-Appel H, Dekkers A, Meuss AR (Hg.). Psychotherapie und der Kampf um das Menschsein: Ansätze zu einer anthroposophischen Psychotherapie. Dornach: Verlag am Goetheanum; 2001.

Lievegoed B. Lebenskrisen – Lebenschancen. Die Entwicklung des Menschen zwischen Kindheit und Alter. München: Kösel-Verlag; 2001.

Priever W. Aspekte des Unbewussten. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 1999.

Treichler M. (Hg.). Biographie und Krankheit - Wendepunkte im Lebenslauf. Stuttgart: Urachhaus; 1995.

von der Heide P. Das helfende Gespräch. Schritte der Ich-Tätigkeit. 2. Aufl. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 1991.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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