Heilungspotential des individuellen Ich

Anthroposophisch-psychotherapeutische Arbeit bei Menschen mit Angsterleben

Tatiana Pavlova

Letzte Aktualisierung: 03.11.2022

Einleitung

Furcht und Angst sind gewöhnliche Phänomene des modernen Lebens, das so schnell und wechselhaft ist, dass es nicht so einfach ist, auf die Veränderungen und Herausforderungen, die es mit sich bringt, sofort angemessen zu reagieren. Man kann also sagen, dass Angst ein verständlicher Aspekt der Lebenserfahrung ist, wenn etwas Unerwartetes eintritt. Aber viele Menschen spüren sie auch in ganz entspannten und behaglichen Situationen. Wir müssen also nicht nur in der äußeren Welt nach den Gründen für die Angst suchen, sondern die Innenwelt des Menschen untersuchen. Häufig betrachten Psychotherapeuten und Ärzte Angst als das Ergebnis eines pathologischen Prozesses (der noch nicht als physiologische Störung vorliegt) oder als eine Eigenschaft des Nervensystems des agoraphobischen Patienten. In diesem Fall sollte die Therapie auch durch eine biologische Therapie erfolgen. Dennoch reichen Medikamente und/oder verschiedene Arten von Physiotherapie oft nicht aus. Außerdem kann sich die Angst nach Einnahme von Medikamenten noch verstärken. All dies lenkt unsere Aufmerksamkeit vom Körperlich-Seelischen weg auf das Innerste des menschlichen Wesens – das individuelle Ich.

Zwei Arten von Angst in der Agoraphobie

Der moderne Mensch hat das Bedürfnis, sich fast in jedem Moment seines erwachsenen, bewussten Lebens als individuelles Ich zu erleben. Aber für viele Menschen ist das Ich nur ein Konzept, ein Bild, das in Bezug auf die äußere Welt geformt und verifiziert werden muss. Es gibt zwei Arten von Angst.
Bei der ersten Art von Agoraphobie-Patient:innen wird ein Großteil der Beweise dafür, dass "ich ein Ich bin", in der äußeren Welt verortet. Sie können nicht sicher sein, dass sie die nötigen Beweise des Ich-Seins haben und leben fast ständig im Gefühl der Angst. Man könnte sagen, dass sie ihre Ich-Erfahrung im Raum verloren haben.
Die zweite Art von Agoraphobie-Patient:innen empfindet Angst, wenn sie sich mit der Zukunft beschäftigen. Sie bewältigen ihr Leben in der Gegenwart, aber sie sind sich nicht sicher, ob sie das weiterhin leisten können, vielleicht sogar schon morgen nicht mehr. Sie können keine Gewissheit in ihrem Wesen bewahren, da sie ihr Gefühl für die Zeit, insbesondere für die Zukunft, verloren haben.
Beide Arten von Patient:innen müssen also die innere Erfahrung ihres individuellen Ichs finden um ein Vermeidungsverhalten überwinden zu können. Wie kann die anthroposophische Psychotherapeutin in diesem Fall helfen? 

Das Ich

Die Geisteswissenschaft besagt, dass das menschliche Ich heutzutage der Wesenskern des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins eines Menschen ist, der Träger individueller Eigenschaften und Fähigkeiten und unseres wirklichen geistigen Wesens, das sich seine Lebensziele setzen und die Möglichkeiten zu deren Verwirklichung schaffen kann. Das menschliche Ich ist also eine erfahrbare Realität, und der Mensch als Ich-Wesenheit hat grundsätzlich diese Erfahrung, und Psychotherapeuten müssen einen Weg finden, dem angsterlebenden Patienten zu helfen, sie zu ergründen.

Die Arbeit mit den beiden Arten von Angst

Bei der Arbeit mit der ersten Art von Agoraphobie-Patient:innen müssen wir mit dem Inhalt ihres Bewusstseins beginnen; d.h. ihnen zu helfen, ihre Gedanken und Befürchtungen mit ihren realen Erfahrungen zu verbinden, wie z.B. sinnliche Erfahrungen, in der Praxis verifizierte Erkenntnisse und reale Ereignisse ihres eigenen Lebens. Sie müssen die Quellen ihrer Gedanken und Überzeugungen finden, sozusagen sich selbst im Raum der äußeren Welt und des sozialen Umfelds erkennen. Dabei werden die Patient:innen eine reale Erfahrung ihres Ichs machen, das den Inhalt ihres Bewusstseins erschafft, es überprüfen und verändern, um diesen Inhalt mit der erfahrbaren Realität zu verbinden. Die Patient:innen bilden also ein neues Ich-Konzept, welches sie in Verbindung mit der Außenwelt überprüfen müssen. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für ihre Entwicklung. Es ist die Grundlage ihres Ich-Bewusstseins und gibt ihnen die erste Stufe des Ich-Bewusstseins, die sie befähigt, sich als Eigentümer und Schöpfer ihrer inneren Welt bewusstseinsmässig zu erleben.

Der zweite Schritt in der Arbeit mit diesen Patienten (und der erste mit denjenigen des zweiten Typs, die Angst vor der Zukunft haben) basiert auf der Erfahrung des Ichs als Träger der individuellen Fähigkeiten und Kapazitäten. In dieser Arbeit beschäftigen wir uns nicht mit der Vergangenheit, sondern bleiben in der Gegenwart und erforschen die Zukunft, um den Patienten zu befähigen, sich bewusst im Strom der Zeit zu erleben. Normalerweise tun Menschen dies, indem sie ihre Fähigkeiten erkennen. Diese werden weitgehend durch den Beruf und die Stellung im Leben einer Person bestimmt.  Aber wir gehen darüber hinaus und konzentrieren uns darauf, wie sie ihre Fähigkeiten unter realen Lebensbedingungen einsetzen. Wenn dies erreicht wird, ist das individuelle Ich keine Art von Bild oder Konzept mehr. Es wird dadurch eine echte Kraft und Grundlage des Seelenlebens.

Der dritte Schritt in der Arbeit mit beiden Arten von Agoraphobie-Patient:innen (der zweite mit denen des zweiten Typs, deren Ängste sich auf eine weit entfernte Zukunft beziehen) liegt im Bereich der Lebensziele und Ideale, bzw. der Werte. In der Jugend, wenn das individuelle Ich im Werden begriffen ist, erscheinen in der Seele der meisten Menschen hohe Ideale. Sie werden wie eine Art spirituelles Licht erlebt, das Begeisterung oder Schmerz hervorruft, aber in beiden Fällen sind sie Ausdruck des schöpferischen Potenzials des Ichs. Wenn wir mit den Idealen der Jugend arbeiten, können wir ihr Licht in die Zukunft lenken, und wenn sie erwachsen werden, haben sie mehr Möglichkeiten, sie zu verwirklichen. Persönliche Werte sind nicht nur leere Worte oder Träume, sie beziehen sich auf die individuellen Fähigkeiten und enthalten echte schöpferische Kraft. Dennoch können sich viele Erwachsene – und oft auch Angstpatient:innen – nicht mehr an ihre Jugendideale erinnern. In diesem Fall können wir sie bitten zu erfassen, welche Arten von Lebenserfahrungen sie als unangenehm oder angsterregend empfinden – jene, die es in ihrem Leben nicht geben sollte. Solche Dinge können nur in der Auseinandersetzung mit Werten betrachtet werden. Damit kann sich ein Mensch neue Ziele für sein zukünftiges Leben setzen, die auf Werten beruhen und dazu führen, dass angsterregende Erlebnisse ihre Bedeutung und damit die Tendenz zu Vermeidungsverhalten verlieren. Wenn ein Mensch solche erreichbaren Ziele definiert hat, erlebt er sich selbst als eine aktive individuelle Kraft, um sein eigenes Leben in der kommenden Zukunft nach seinen Werten zu gestalten und er spürt die Angst dadurch weniger.

Wenn man sich dem Wesen des Angstphänomens zuwendet, kann man erkennen, dass es sich um eine Art Gefühl handelt, das an der Grenze des Bewusstseins erlebt wird. Um die Angst zu überwinden, ist es daher notwendig, die Grenzen des Bewusstseins zum Raum und zur Zukunft zu erweitern. Und der Mensch kann dies tun, wenn er sich in seinem individuellen Ich verankert.

  • Arbeitsschritt 1 
    Bewusstseinsgrenze: zwischen dem tatsächlichen Inhalt bewusster Begriffe und Gedanken und ihren ins Unterbewusstsein verdrängten Ursprüngen. 
    Arbeitsinhalt: Verbindung der Gedanken und Befürchtungen mit realen persönlichen Erfahrungen.

  • Arbeitsschritt 2
    Bewusstseinsgrenze: zwischen den von der äußeren Welt geforderten Fähigkeiten und denjenigen, die der Grundinhalt des Seelenlebens sind.
    Arbeitsinhalt: Erkennen der Fähigkeiten, die derzeit nicht genutzt werden, und Überlegung, wie der Patient sie unter tatsächlichen Lebensbedingungen nutzen kann.

  • Arbeitsschritt 3
    Bewusstseinsgrenze: zwischen dem Selbstbewusstsein auf der Ebene der Seelenreaktionen und demjenigen auf der Ebene des individuellen schöpferischen Potenzials.
    Arbeitsinhalt: Die Gestaltung der Lebensziele und die Schaffung von Möglichkeiten zur Verwirklichung der Fähigkeiten, die mit ihren Werten und individuellen Grundsätzen verbunden sind.

Die Überwindung der Angst muss also darauf beruhen, dass das individuelle Ich-Potenzial des  Agoraphobie-Patienten erkannt wird und sich verwirklichen kann. Diese Arbeit kann unabhängig von der sozialen und finanziellen Situation des Patienten geleistet werden. Wenn die Angst nur eine äußere Manifestation eines tieferen Problems ist, müssen wir mit diesem entsprechend seiner Besonderheit arbeiten. 

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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