Maltherapie zur Unterstützung und Pflege des Bewusstseinsraumes palliativer Patienten

Dagmar Brauer, Astrid Didwiszus

Letzte Aktualisierung: 12.11.2020

Ob im Rahmen einer Palliativstation, eines Hospizes oder als Hausbesuch ambulant tätiger  Kunsttherapeuten: Aktive und rezeptive Maltherapie kann in der letzten Lebensphase eines unheilbar erkrankten Menschen helfen, seinem Seelen- und Bewusstseinsraum Ausdruck zu verleihen. Diesen inneren Prozess farblich einem Blatt Papier als «Zeuge» anzuvertrauen, ist ein  individueller und intimer Vorgang und der entstehende malerische Ausdruck oft nicht vorhersehbar. Das entstandene Bild kann eine breite Palette an Resonanz beim Malenden auslösen – sich freuen,  überrascht oder entlastet sein bis hin zu verwundert und nachdenklich werden.

Das sich durch die Krankheits- und Bewusstseinsentwicklung in der palliativen Situation vorbereitende Lösen von den irdischen Verhältnissen, kann sich in den Patientenbildern widerspiegeln. So werden Farbe, Form und Dynamik häufig immer mehr zurückgenommen. Oftmals nimmt bei gegenständlichen Motiven die Erde zugunsten des Himmels ab. Einfache, eindeutige Motive, zu denen der malende Mensch einen Sinnbezug hat oder aufnehmen möchte, können dann angeboten werden. Andererseits können in dieser Situation auch Bilder entstehen, deren Motive ein letztes «Zupacken» in Form intensiverer Farbigkeit und -dynamik aufzeigen. Wohin auch der persönliche Bildausdruck geht, er wird mit der Haltung der Kunsttherapeuten getragen, dass sich hierin menschliche Entwicklungskräfte und -wege fördern und pflegen lassen.

Therapeutisch ist der schwerkranke Mensch aufmerksam, behutsam, warmherzig und ruhig zu begleiten. Er steht mit seinen körperlichen, seelischen und kognitiven Bedürfnissen und Befindlichkeiten im Mittelpunkt und entscheidet, was möglich ist – mit oder ohne Worte. Kunsttherapeutinnen und -therapeuten lernen, diese angemessen einzuschätzen und sich ihrer eigenen emotionalen Herausforderung in dieser Situation zu stellen. Eine aufrichtige Beziehung aufzubauen und Vertrauen und Trost zu geben, sind hier die wichtigsten Grundlagen für die Begegnung.

Zum therapeutischen Umfeld

Unverzichtbare Grundlage bei der kunsttherapeutischen Begleitung von schwerstkranken oder sterbenden Menschen ist eine umfassend kompetente palliativmedizinische und pflegerische Unterstützung. Erst wenn die Patientin, der Patient so bequem als möglich gebettet ist, so wenig Schmerzen wie möglich hat und wenn auch basale Bedürfnisse wie zum Beispiel Durst gestillt sind, kann die therapeutische Begegnung beginnen.

Häufig wird das Malen im Bett stattfinden und entsprechend angemessene Materialen sind zu berücksichtigen. 

Ziele maltherapeutischer Begleitung 

  • Unterstützung bei der Verarbeitung und Bewältigung der krankheitsbedingten Symptome.
  • Unterstützung beim Lösen seelischer und geistiger Herausforderungen und Fragen.
  • Unterstützung im Prozess des Sterbens und Abschiednehmens.

Zur maltherapeutischen Begleitung 

In der palliativstationären Maltherapie entstehen häufig Bilder, die ein tiefer Ausdruck empfundener Bewusstseins- und Wandlungsprozesse der Patienten sind: Lebensbilder, Hoffnungsbilder, Märchenbilder, Sichere Ort-Bilder und Abschiedsbilder.

Lebensbilder: Insbesondere jüngere Patienten mit ernster Prognose wollen Lebensbilder und Lebenserinnerungen malen. Sie bringen Vorstellungen ihrer Bildmotive mit und wir unterstützen sie künstlerisch-kunsttherapeutisch beim Umsetzen derselben, um das Bild mit einem Gefühl der Zufriedenheit verschenken (vererben) zu können.

Hoffnungsbilder: In der palliativen Behandlung können dennoch Hoffnungsbilder entstehen: Ein warm-gelbes Licht in der Bildmitte, umhüllt von einem transparenten Blau. Ein hellroter Horizont über einem grünen Hügel. Ein sanft wogendes blaues Meer. Ein offenes Farbentor. Die Sonne. Der Regenbogen. Ein Baum als Teil des Naturkreislaufs. Aber auch jedwede Farbe oder Bildmotiv, mit denen die Patientin oder der Patient ein persönliches Empfinden von Hoffnung verbindet.

Märchenbilder: Dem Tod nahestehende Patienten erinnern sich häufig ihrer Schwellenerfahrungen in der eigenen Biografie und empfinden «Schicksalswalten». Um diese malerisch zu verarbeiten, bieten sich die identitätsstiftenden, trostspendenden und heilsamen Märchenmotive der Gebrüder Grimm an.

Sichere Orte-Bilder: Der Wunsch nach Schutz und Geborgenheit ist ein grosses Bedürfnis sterbenskranker Menschen. Schon ein in einer einzelnen Sitzung ermaltes und als gelungen erlebtes Sichere Orte-Bild kann das Wohlbefinden stärken. Hierbei kann auch das Formenzeichnen unterstützend sein. Die Therapeuten hängen es im Krankenzimmer so auf, dass der Patient es ansehen kann.

Abschiedsbilder, das «letzte» Bild: Welches Bild wird für einen malenden Palliativpatienten das letzte sein? Es ist nicht vorhersehbar, dafür sind die individuellen Verläufe zu unterschiedlich und die grosse Metamorphose, in denen sich ein Mensch zwischen Leben und Tod befindet, zu intim. In der langjährigen Erfahrung von Kolleginnen und Kollegen haben sich dennoch bestimmte Signaturen in einem «letzten» Bild offenbart: Wasser, eine Flamme, ein Farbenkeim, ein Tor.

Über die Kunsttherapie kann sich ein neuer Sinn für den schwerst- und sterbenskranken Menschen öffnen, der unmittelbar erfahrbar wird.

Letzte Bildreihe einer Patientin

Diese drei Bilder einer 72-jährigen Brustkrebspatientin sind zwei Monate vor ihrem Tod entstanden. Es sind die letzten, die von ihr gemalt wurden. Über vier Jahre kam sie während ihrer stationären Chemotherapie-Aufenthalte zur Maltherapie. Das erste Bild zeigt ein Motiv, dass sich die Patientin vorgenommen hatte zu malen. Im zweiten Bild setzt sie den therapeutischen Hinweis um, die Farben wie umzudrehen und die Lichtfarbe am Horizont zu bilden und das Wasser (Meer) daran anzuschliessen. Es war anstrengend für sie, doch hat sie das fertige Bild sehr berührt. Lange überlegte sie, wie und wo das Schifflein darin seinen Platz finden kann (das zum therapeutischen Hinweis gehörte). Das dritte Bild zeigt eine Insel aus der Vogelperspektive; die Patientin formulierte dazu, dass sie keine weiteren Bilder mehr malen wolle.

Abb. 1: Freies Bild einer 72-jährigen Mammakarzinom-Patientin in der palliativen Situation. © Dagmar Brauer 

Abb. 2: Bild einer 72-jährigen Mammakarzinom-Patientin in der palliativen Situation nach therapeutischen Vorschlag der Kunsttherapeutin. © Dagmar Brauer 

Abb. 3: Das letzte Bild einer 72-jährigen Mammakarzinom-Patientin zwei Monate vor ihrem Tod. © Dagmar Brauer  

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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