Salutogenese und Krebs

Josef Ulrich

Letzte Aktualisierung: 11.04.2019

Die Inzidenz von Krebserkrankungen hat in den letzten Jahrzehnten – besonders in der westlichen Welt – deutlich zugenommen (1). In vielen Fällen kann jedoch die Krebserkrankung geheilt oder auch in fortgeschrittenen Krankheitsstadien eine erstaunlich lange Überlebenszeit erreicht werden. Vielen Patienten gelingt es, trotz der Krankheit ein erfülltes Leben bei guter Lebensqualität zu führen.

Was ist bei Menschen, die trotz ungünstiger Voraussetzungen ihre Krankheit überwinden konnten, geschehen? Könnte es sein, dass einerseits durch medizinische Unterstützung die Krankheit „verkleinert“ oder sogar aufgelöst werden konnte, andererseits der Organismus seine gesunde Leibbildungskraft, seine Selbstheilungskräfte an dem Ort, an dem früher Krebs war, wieder zurückgewonnen hat?

Es gibt Heilungspotenziale in uns

Ständig findet in allen Körperzellen DNA-Reparatur, Reorganisation und Heilung statt; ohne diese permanenten Heilungsvorgänge könnten wir keinen Tag überleben. Die lebenslänglich in uns wirksame gesunde Organisationfähigkeit hat das Potenzial, sich auch in einer erkrankten Körperregion zu entfalten. Dieser Prozess ist nicht erzwingbar, kann jedoch gefördert und unterstützt werden, auch durch unsere innere Haltung und die Gestaltung des therapeutischen Milieus. Damit ist der Prozess fast immer mit seelisch-geistigen Entwicklungen verbunden.

Ermutigung zur Selbstgestaltung: Anerkennung und Wertschätzung der schöpferischen Heilungspotenziale im Menschen

Die Begleitung von Menschen, die von einer Krebserkrankung herausgefordert werden, verlangt eine zweifache therapeutische Aktivität:

1. die Tumortherapie (z. B. Operation, Chemotherapie, Schmerztherapie) und

2. die Stärkung der körpereigenen gesundenden Reorganisationskräfte.

Letzteres führt den Patienten dazu, durch verschiedene therapeutische Übungs- und Erkenntnisverfahren ein aktiver Mitgestalter auf seinem Heilungsweg zu sein. In der anthroposophischen Onkologie wird angestrebt, ein vertrauensvolles, partnerschaftliches Verhältnis zum Patienten aufzubauen und diesen in seiner Kompetenz und Selbstwirksamkeit zu fördern.

Die beiden Ziele – die der Krankheitsreduktion und der Gesundheitsförderung – scheinen umso wirkungsvoller erreicht zu werden, je mehr es uns gelingt, ein interdisziplinäres Team um den betroffenen Menschen zu bilden, das den Patienten begleitet und ihn ermutigt, seinen eigenen Gesundungsprozess mitzugestalten. Dieser Sichtweise liegt das Konzept der Salutogenese zugrunde, das sich – im Gegensatz zum oft vorherrschenden pathogenetischen Krankheitskonzept – mit den Bedingungen befasst, die zur Entstehung Erhaltung von Gesundheit führen. Die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit, auch unter Extrembedingungen, ist innig verbunden mit der Erfahrung von Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und der Gestaltbarkeit (2).

Alles im Lebendigen ist in Entwicklung . So ist auch Gesundheit ein dynamischer Prozess, der zu jedem Zeitpunkt des Lebens immer neu errungen werden muss. Jedes Lebensalter hat seine eigene Gesundheit, und jeder Mensch sein individuelles gesundheitliches Gleichgewicht. Es ist unsere Aufgabe, die erstaunlichen Heilungs- und Regenerationsprozesse des Organismus noch genauer zu erforschen, um daraus differenziertere salutogenetische Behandlungskonzepte zu entwickeln (3, 4).

Die Salutogeneseforschung hat beispielsweise in den Bereichen Rhythmologie und Immunologie in den letzten Jahrzehnten großen Auftrieb erfahren. Unter anderem erhielten auch diejenigen Faktoren zunehmende Aufmerksamkeit, die mit überraschenden Heilungen in Zusammenhang gebracht werden konnten (5, 6).

Aus der Momentaufnahme von Befund und Befinden lässt sich die weitere Entwicklung nicht sicher vorhersagen; Krankheitsverlauf und geistig-seelische Entwicklung sind immer individuell. Neben den psychosozialen Lebensbedingungen ist die Spiritualität des Menschen – z. B. durch Meditation – auf das Innigste mit der Entfaltung seiner Heilkräfte verbunden.

In dem Körper-Seele-Geist-Verständnis der Anthroposophischen Medizin leben diejenigen Entwicklungsaspekte, die heute durch die Epigenetikforschung, die Psychoneuroimmunologie und die Salutogeneseforschung wissenschaftlich nachweisbar geworden sind. Im klinischen Alltag werden diese Erkenntnisse durch das interdisziplinäre Konzept der Anthroposophischen Medizin verlebendigt. Der augenblickliche pathologische Befund wird im großen Kontext der fortlaufenden biografischen Entwicklung des einzelnen Menschen gesehen.

Vor diesem Hintergrund vermag der Heilerwille im Team, trotz einer vielleicht limitierten medizinischen Perspektive, den Raum für wünschenswerte Entwicklung offen zu halten. Der Glaube an Heilung und der Wille zur Gesundung können sich im Betroffenen sowie in seinem Umfeld ebenso entfalten wie auch Tod und Sterben in das Leben integriert werden können. Eine ausschließliche Fokussierung auf den Wunsch nach physischer Heilung kann sich – vielleicht auch im Hinblick auf eine für möglich gehaltene Unsterblichkeit von Seele und Geist – in Schicksalsbejahung, in ein Vertrauen in die Führung der geistigen Welt verwandeln.

Die therapeutische Gemeinschaft als ein Wegbegleiter und Entwicklungshelfer

Der Betroffene kann übend und bewusstseinsbildend – im Sinne der alten lateinischen Formel fabricando fabricamur: im Gestalten gestalten wir uns selbst – an seinem vielschichtigen Heilungsprozess mitarbeiten und seine Selbstwirksamkeitspotenziale erschließen.

Wahrnehmungsfähigkeit und Introspektionsfähigkeit, der Raum zur Selbstbegegnung, Selbsterkenntnis und Entwicklungs(neu)ausrichtung können sich in den therapeutischen Prozessen öffnen. In Einzelgesprächen oder in Gesundheitsseminaren werden diese neuen Erfahrungsräume geschaffen. Denken, Fühlen und Handeln werden in ihrer leibbildenden Kraft erfahrbar, dysfunktionale Muster wahrgenommen und neue Sichtweisen erübt. Neue Kraft und Hoffnung sowie die Entwicklung eines dreifachen Vertrauens – in sich selbst, in das Du/Ihr und in die Führung der geistigen Welt – können die Früchte aus den Entwicklungsprozessen in der therapeutischen Gemeinschaft sein. Dadurch unterstützt, kann sich der häufig seelisch isolierte Patient auf seinen individuellen Gesundungsweg begeben (7, 8).

Eine vertrauensvolle Verbundenheit bildet sich unter den Menschen im Durchlaufen individueller Entwicklungsprozesse, die häufig in Richtung der Autogenese führen, das heißt, zu dem Ziel, der zu sein, der man im tiefsten inneren Wesenskern ist. Eine Weggemeinschaft, eine Entwicklungs- und Schicksalsgemeinschaft kann unter den Betroffenen entstehen, in der sie sich gegenseitig liebevoll durch unterschiedliche Krankheitsphasen begleiten.

Eine im salutogenetischen Sinn Kräfte fördernde Therapiegemeinschaft versucht, ein Umfeld für den von der Krankheit herausgeforderten Menschen zu bilden, in dem er in eine Begegnung mit seinem tiefsten inneren Wesen kommen kann. In einem von fürsorglicher Aufmerksamkeit, Achtung und Respekt vor seinem ganzen Menschenwesen geprägten Begegnungsraum können neue Erfahrung und Entwicklung ermöglicht werden. Sie führen zur Anerkennung und Wertschätzung der Potenziale der Schöpfer- und Heilkräfte im Menschen.

Das Erleben von erstaunlichen, unerwarteten Entwicklungen sowie die Erfahrung von Gelassenheit und Vertrauen von Mitpatienten in die Weiterentwicklung des Lebens, selbst am Ende des Lebenslaufes, verringern die Angst und fördern Mut zum Sein und Vertrauen in das Werden.

Literaturverzeichnis

  1. Stewart BW, Wild CP (eds). World Cancer Report 2014. Lyon: International Agency for Research on Cancer. World Health Organization; 2014. 
  2. Antonovsky A, Franke A. Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag; 1997.
  3. Kienle GS, Kiene H. Die Coley’sche Fiebertherapie der Krebserkrankung – Historischer Markstein oder heute noch Vorbild? Ein Beispiel für Cognition-based Medicine. Der Merkurstab 2003;56(6):355-364.
  4. Kienle GS. Fever in Cancer Treatment: Coley’s Therapy and Epidemiologic Observations. Global Advances in Health and Medicine 2012;1(1):92-100.
  5. Turner K. 9 Wege in ein krebsfreies Leben. München: Irisiana Verlag; 2015.
  6. Simonton OC, Matthews Simonton S, Creighton J. Wieder gesund werden: Eine Anleitung zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte für Krebspatienten und ihre Angehörigen. 15. Aufl. Reinbek: Rowohlt; 2001.
  7. Ulrich J. Selbstheilungskräfte, Quellen der Gesundheit und Lebensqualität. 4. Aufl. Stuttgart: aethera® im Verlag Urachhaus; 2018.
  8. Ulrich J. Unlocking Your Self-Healing Potential: A Journey Back to Health Through Authenticity, Self-determination and Creativity. Edinburgh: Floris Books; 2018.   

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin