Erfahrungen von sexuell traumatisierten Frauen mit einer anthroposophisch erweiterten Psychotraumatherapie

Eine qualitativ empirische Studie

Alejandra Mancini, Olga Feist-Gröteke

Letzte Aktualisierung: 13.03.2023

Einleitung

Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist ein weltweit verbreitetes Problem und nimmt unterschiedliche Formen an: körperliche, sexualisierte, emotionale Gewalt, Vernachlässigung. Die Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Deutschland liegt im europäischen Durchschnitt. Nach dem Bericht des Robert Koch Instituts von 2020 erleben 35% der Frauen in Deutschland ab dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexualisierte Gewalt. Die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit und die psychosoziale Situation der Frauen können schwerwiegend sein (1).

Die Psychotraumatologie ist eine Antwort auf den Bedarf an spezifischen Behandlungskonzepten nach gewaltvollen biografischen oder historischen Ereignissen. Einige dieser Konzepte berücksichtigen eine spirituelle Dimension, welche zumeist in der buddhistischen Tradition angesiedelt sind, wie z. B. die in Deutschland bekannte psychodynamische Therapie (2). In diesem Artikel wird das Menschenbild der Anthroposophie Rudolf Steiners explizit einbezogen und mögliche Einflüsse einer anthroposophisch erweiterten Psychotraumatherapie mit sexuell traumatisierten Frauen auf ihre Therapieprozesse und auf qualitative Therapieergebnisse diskutiert.

Anthroposophisches Menschenbild und Psychotraumatherapie
Dem therapeutischen Prozess ist eine ethisch-moralische Dimension inhärent (3). Therapeut:innen und Patient:innen haben – bewusst oder unbewusst – ihre eigenen Annahmen über den Menschen, die den Therapieprozess beeinflussen. Eine diesbezügliche Reflektion könnte die Auswirkungen eines zugrunde liegenden Menschenbildes im psychotherapeutischen Prozess transparenter, besser einschätzbar und handhabbar machen.

Die anthroposophisch erweiterte Psychotraumatherapie strebt die ganzheitliche Behandlung traumatisierter Menschen an und berücksichtigt dabei das komplexe Zusammenspiel und die Wechselwirkungen von Geist, Seele und Körper (4, 5).

Im Folgenden begreifen wir den Begriff spirituell als eine Aktivität des individuellen Geistes oder des menschlichen Bewusstseins (4, S. 203). Die Möglichkeit des Menschen, in seiner Biografie Selbstwirksamkeit zu entwickeln und sein Potential im Sinne der Selbstentfaltung voranzutreiben, ergibt sich aus seinem Ich  und seiner Aktivität. Durch seine Ich-Aktivität, als selbstinitiierte "geistige Selbstaktivierung" (6), gewinnt der Mensch innere Präsenz und kommt in Kontakt mit tieferen, transzendenten Ebenen des Seins (7).

Diese innere Aktivität prägt den Seelen- und Empfindungsleib und setzt sich bis in den Lebensleib fort . Sie stellt eine Hauptquelle seelischer und leiblicher Gesundheit dar und enthält ein gesundheitsförderndes Entwicklungspotential (6). Beziehung im Allgemeinen und insbesondere eine therapeutische Beziehung stellt spirituell betrachtet einen strukturbildenden Prozess dar, in dem die innere Aktivität des oder der Therapeut:in, in Resonanz mit dem oder der Patient:in, seine oder ihre innere Tätigkeit fördern kann. Im Rahmen einer therapeutischen Beziehung können Patient:innen die Fähigkeit erlangen, innere Prozesse selbst zu steuern und zu gestalten. Selbstgestaltung und  Selbstregulation sind in der Arbeit mit traumatisierten Menschen von zentraler Bedeutung (5), denn beide sind bei ihnen geschwächt.

Methodik

Dieser Artikel basiert auf einer qualitativen empirischen Studie im Rahmen einer Masterarbeit im Fach Klinische Psychologie/Psychotherapie an der Universität Witten-Herdecke in 2018. Er zielt darauf ab, den komplexen Erfahrungshorizont der befragten dreizehn Frauen als Expertinnen ihrer eigenen biografischen Erfahrungen (8) in seiner Einzigartigkeit zu untersuchen und zu beschreiben. Er hat nicht die Absicht, über diese Interviewergebnisse hinaus allgemeingültige Aussagen zu treffen. 

Die befragten Frauen hatten die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 (9) erhalten und in der Kindheit und/oder Jugend sexuelle Gewalt erlebt. Sie waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 23 und 65 Jahre alt, zumeist berufstätig, in traumatherapeutischer Behandlung, hatten komplementäre Therapien – am häufigsten Kunsttherapie und Heileurythmie – erfahren und wurden von mindestens einem anthroposophischen Arzt begleitet.

Forschungs- und Leitfragen

Die Forschungsfrage lautet, welche Einflüsse aus Sicht der Interviewten das anthroposophische Menschenbild der Therapeutin auf sie selbst und ihre Prozesse in der spirituell erweiterten Psychotraumatherapie haben. Die Interviews greifen diese Frage aus verschiedenen Perspektiven auf. 

Abb. 1: Bildung eines Kategoriensystems zur anthroposophisch erweiterten Psychotraumatherapie

Aus der Forschungsfrage wurden vier Leitfragen für die Interviews abgeleitet:

  1. Was hat Ihnen in Ihrem Leben Unterstützung oder Hilfe bei der Bewältigung von Problemen und psychischen Belastungen gegeben?                              
  2. Aus welchem Grund haben Sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben?
  3. Wie haben Sie Ihre Psychotraumatherapie erlebt? Welche Bilanz ziehen Sie rückblickend aus Ihrer Psychotherapie?
  4. Hat die Psychotherapie Ihr Selbstverständnis beeinflusst und wie Sie heute in der Welt stehen?

Analyse und Ergebnisse 

Die Antworten der Frauen auf diese Fragen führten mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (10) und Mayring & Gläser-Zikuda (11) zur Bildung verschiedener Kategorien. Die Interviewten beschrieben positive und förderliche Entwicklungen an sich selbst im Zusammenhang mit der Therapie. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Innere Aktivität als grundlegende geistige Aktivierung, was im Leben Halt gegeben hat. Dazu gehören:

  • Glaube/Religiosität: Gemeint sind eine allgemeine Religiosität, mit oder ohne konfessionelle Anbindung oder Religionszugehörigkeit; eigene Glaubensformen, Rituale und Erfahrungen zur Existenz von etwas Höherem oder Sinnhaftem. Beispiel: „Ich kann mir eine Welt ohne Gott nicht vorstellen.“ „Ich bin schon sehr verwurzelt im christlichen Glauben aufgewachsen, sodass ich das Gefühl habe, dass es irgendwie noch etwas anderes gibt, das mich hält als das, was wir sehen oder greifen können.“

  • Mit der Außenwelt verbunden sein: Die spontane Erfahrung, mit Menschen, der Natur, der Energie oder der Welt im Einklang zu sein. Beispiel: „Ich glaube, wenn ich der Welt etwas Gutes gebe, wird die Welt auch etwas Gutes für mich haben.“ 

  • Selbsttätigsein: Ein gegenwärtiges geistiges Erleben im Zusammenhang mit der eigenen Aktivität. Beispiel: „Ich meditiere regelmäßig, ich rezitiere jeden Tag die Veden.“
     
  • Aktivierung der Beziehung zu sich selbst: Die aktive Bezugnahme zu sich selbst, sich dem Erleben eines Persönlichkeitszentrums zu nähern und eigene Grundimpulse wahrzunehmen. Beispiel: „Ich glaube, ich habe letztlich eine unglaubliche Kraft, eine solche innere Kraft, leben zu wollen.“ „Ein angeborener Wille zu leben.“ 

2. Selbstverständnis und Trauma. Änderung des Selbstbildes, der Selbstwahrnehmung, der Selbstakzeptanz und der Bedeutung des Traumas:     

  • Stellenwert des Traumas: Wandel in der Einstellung gegenüber dem Trauma, seiner Bedeutung und der damit verbundenen psychischen Erkrankung. Beispiel: „Die Missbrauchserfahrungen sind Teil meines Lebens, aber sie beeinträchtigen mich emotional nicht mehr.“ „Es ist ein Unterschied, ob ich dem ausgeliefert bin oder ob ich es zuordnen kann. Andererseits hat sich verändert, dass ich damit umgehen kann, dass ich wirklich zwischen alten Gefühlen und der realen Situation unterscheiden kann. Es gab Zeiten, da war das nicht möglich.“

  • Körpererfahrung: Veränderte Beziehung zum eigenen Körper und Umgang mit ihm. Beispiel: „Ich bin mehr in meinem Körper, fühle mich wohler und mehr da. Ich weiß um das getrennte Sein.“ „Mein ganzer eigener Körper war immer nur schlecht, unangenehm, negativ, nicht zu zeigen, nicht schön zu finden. Und das habe ich abgelegt.“ „Die Sexualität (war) meistens dissoziiert und sehr abgeschnitten. Also alles unterhalb des Bauchnabels war eigentlich nicht bewusst. Das hat sich deutlich geändert.“

  • Selbstakzeptanz: Verständnis für die Zusammenhänge in der eigenen Lebensgeschichte, Wertschätzung sich selbst gegenüber. Beispiel: „Dieses Gefühl, gar kein Selbst zu haben, sondern nur die Marionette der anderen zu sein und nicht liebenswert zu sein, außer wenn ich nützlich bin. Das Recht zu leben, einfach, weil ich so bin, wie ich bin, wer ich bin.“ „Was bleibt, ist das Wissen, dass ich trotz allem, was mir im Leben widerfahren ist, eine unglaubliche Kraft habe, eine solche innere Kraft, leben zu wollen, einen angeborenen Willen zu leben, mit den Dingen umzugehen und das anzuerkennen. Ich kann diese Kraft nicht einmal beschreiben oder benennen.“


3. Erfahrung einer erhöhten Selbstwirksamkeit im Umgang mit Ressourcen. Das bedeutet, die eigene Wirksamkeit zu erfahren und sich interner und externer Ressourcen bewusst zu werden; ferner die Möglichkeit, solche Ressourcen bewusst zu mobilisieren und zu steigern, auch neue aufzubauen, sowohl interne als auch externe:

  • Vorhandene Ressourcen erkennen: Sich der eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Stärken und Kompetenzen, die vor der Therapie vorhanden waren, bewusst werden und diese benennen. Beispiel: „Hier in Deutschland habe ich meine Vorstellungskraft genutzt, dann bin ich ruhiger geworden und konnte das ausblenden, was mich belastet hat.“ 

  • Vorhandene Ressourcen mobilisieren: Die bewusste Nutzung, Anwendung und Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen. Dies ist verbunden mit Übungen, Techniken, die in der Therapie erlernt und außerhalb der Therapie angewendet wurden. Beispiel: „Wenn ich irgendwas brauche, wenn es mir nicht gut geht, habe ich die Füße auf dem Boden und prüfe meine Haltung, meine Atmung; gut atmen, das Atmen ist wichtig.“

  • Neue Ressourcen bilden: Neue Fähigkeiten oder Kompetenzen, die während der Behandlung entwickelt wurden und sowohl intern als auch extern eingesetzt werden (zwischenmenschliches Handeln). Beispiel: „Was ich neuerdings mache: schreiben. Das, was ich bearbeite, in Gedichte fassen.“ „ Ich habe nie Menschen gezeichnet, und jetzt fange ich an zu skizzieren, Menschen zu zeichnen, Proportionen, mir Menschen anzugucken, das find ich eine ganz,  ganz erstaunliche Wandlung, weil, da gucke ich jetzt hin“.

  • Beziehung als Ressource: die positive Bedeutung von Beziehungen zu anderen Menschen und anderen Lebewesen, die unterstützend und/oder eine Quelle der Kraft sind. Beispiel: „Meine Großeltern hatten einen Esel und der war mein treuester, mein Freund, mit dem ich dann unterwegs war, das hat mir besonders gut getan, die Bewegung, immer draußen zu sein.“ „Meine Lehrerin. Ich habe viel positives Feedback und Anerkennung von meiner Klassenlehrerin bekommen.“ 
     

4. Auf der anderen Seite beschreiben die befragten Frauen verschiedene Aspekte der Therapeutin, die für ihren therapeutischen Prozess hilfreich waren. In diesem Sinne könnten die spirituell erweiterten Grundhaltungen der Therapeutin als "spirituelle Basis" der therapeutischen Wirksamkeit gesehen werden, die Veränderungs- und heilsame Prozesse bei den Patientinnen anregen. Hier sind Tätigkeiten und Werte gemeint, die im Menschenbild begründet sind und sich im Verhalten der Therapeutin gegenüber der Patientinnen ausdrücken:

  • Patienten-Therapeuten-Beziehung: Ausdruck der Qualität und Bedeutung der therapeutischen Beziehung für die Patientinnen. Beispiel: „Wenn ich meine Seele offenbare, brauche ich einen Menschen, zu dem ich eine Beziehung haben kann.“ „Da ist jemand, die hält mich so aus und dann kann ich auch lernen, mich selber auszuhalten, und mich dann auch zu mögen.“ 

  • Spirituelle Haltung: Bedeutung der Haltung der Therapeutin gegenüber den Patientinnen. Beispiel: „Diese Spiritualität, ich glaube, das spielt eine große Rolle für die Therapeutin. Zu wissen, dass der Mensch erstmal heil ist, sonst kann man, glaube ich, eine solche Arbeit nicht machen. Ich glaube, das ist eine Voraussetzung.“ „Das ist Engelsarbeit, was die Psychotherapeutin macht. Sie bringt ihre eigene Spiritualität ein, sodass man immer innere Bilder und Zugang zu was bekommt. Wenn man im realen Leben zurechtkommen muss und einfach nicht mehr kann, versucht sie, diesen Zugang zu erleichtern, zu schaffen, dass wirklich Wesen kommen, um einem in dieser Situation zu helfen, wenn man sie anrufen kann.“ „Wir haben oft über spirituelle Themen gesprochen. Zum Beispiel war mein Vater Nationalsozialist, das hat mich natürlich im Laufe der Therapie sehr beschäftigt, und wir haben auch viel über die Rolle des Bösen gesprochen, was auch ein spirituelles Thema ist.“

  • Vernetzen und Verbinden: Die Therapeut:innen und Ärzt:innen werden als ein tragendes Netzwerk von den Patientinnen wahrgenommen. Die integrative Zusammenarbeit der Therapeutin mit anderen Expert:innen, die ein spirituelles Menschenbild und eine ganzheitliche Sichtweise vertreten, wird hervorgehoben. Beispiel: „Was ich bei der Therapeutin ganz wichtig finde, ist, dass sie so eine Netzwerkerin ist, sie immer wieder die Kontakte herstellt. Wenn wir irgendwie noch ein Thema haben, gibt es manchmal ein Buch, das mir mitgegeben wird oder Kontakte zu anderen, also dieses Netzwerken, dieses Verbinden, hat sie total gut gemacht.“

Synoptischer Überblick  

In dieser Arbeit wurde der Forschungsfrage nachgegangen, welchen Einfluss das anthroposophische Menschenbild der Therapeutin auf die Patientinnen und deren Therapieprozesse haben kann. Im Zusammenhang mit dem hier verwendeten Spiritualitätsbegriff – Spiritualität wird als Ich-Aktivität, als selbstinitiierte innere Selbstaktivierung mit der damit verbundenen Erfahrung von Selbstwirksamkeit verstanden – konnte gezeigt werden, dass die anthroposophische Psychotraumatherapie den befragten Frauen Anregungen bot, die sie entweder aufgriffen und in einen eigenen Sinnzusammenhang stellten oder nicht. Die Einflüsse der Therapie steuerten die Frauen weitgehend selbst, da sie sich hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Erwartungen an die Behandlung stark unterschieden. Vier der dreizehn befragten Frauen suchten eine spirituell orientierte Therapie, in der sie sich mit ihren inneren Anliegen auseinandersetzen konnten, weil sie bereits schon vorher auf einem spirituellen Weg waren. Andere Frauen legten den Schwerpunkt auf eine qualifizierte Traumatherapie, doch nicht allen Interviewten war zu Beginn der Behandlung bewusst, dass es sich um eine solche handelt. Diese Gesichtspunkte relativieren nicht, sondern zeigen, wie individuell die Befragten die Psychotraumatherapie erlebt haben oder welchen Wert sie daraus ableiten konnten. Dementsprechend ergibt eine professionelle Reflexion, welche spezifischen Aspekte der Psychotraumatherapie für die jeweilige Frau die maximale Anregung erzielen konnte.

Ergebnisanalyse, Diskussion und Interpretation

Die in Abbildung 1 genannten Oberkategorien stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander und können in zwei Ebenen abgebildet werden (siehe Abbildung 2). Zwei Kategorien – die „spirituelle Grundaktivierung der Patientinnen“ und die „spirituelle Grundhaltung der Therapeutin“ – bilden die erste Ebene der „spirituellen Basis“ einer therapeutischen Wirksamkeit. Zusammen können sie als ein Resonanzraum verstanden werden, der individuelle Veränderungs- und Wirksamkeitsprozesse ermöglicht und anregt. Die spirituellen Grundhaltungen der Therapeutin haben zudem einen förderlichen Einfluss auf das „Selbstverständnis und Trauma“ (zweite Oberkategorie) und die „Selbstwirksamkeit im Umgang mit Ressourcen“ (dritte Oberkategorie) der Patientinnen, die hier abgebildet sind. Dies lässt sich unter dem Begriff „spirituelle Wirkungen" zusammenfassen und stellt die zweite Ebene dar. Die Daten implizieren, dass die Unterkategorien „Selbstverständnis und Trauma“ und „Selbstwirksamkeit im Umgang mit Ressourcen“ auch in einem interdependenten Verhältnis zueinanderstehen, denn in dem Maße, in dem die Patientinnen eine Steigerung der Selbstwirksamkeit im Umgang mit sich selbst und der Außenwelt erfahren (bessere Selbstregulation), erkennen sie neue Aspekte von sich selbst und ihr Selbstkonzept verändert sich.

Erwähnenswert ist, dass die Mehrheit der Patientinnen zu Beginn nicht dazu angeregt wurden, über ihre eigene Spiritualität und die spirituelle Haltung der Therapeutin zu reflektieren, sondern erst im Laufe des Interviews durch die gestellten Fragen ein Bewusstsein dafür entwickelten und beides in Worte fassen konnten.

Abb. 2: Spirituelle Voraussetzungen und Effekte einer anthroposophisch erweiterten Psychotraumatherapie

Diskussion und Interpretation der Ergebnisse

Die vorliegende Studie bezieht den anthroposophischen Ansatz in das das Behandlungssetting der Traumatherapie mit ein. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob aus Sicht der befragten sexuell traumatisierten Frauen das anthroposophische Menschenbild als spiritueller Hintergrund der Therapeutin einen Einfluss auf ihren Therapieprozess hat. Durch die Befragung und anschließende Analyse kann angenommen werden, dass die anthroposophisch erweiterte Psychotraumatherapie heilsame und vielfältige Wirkungen zeigt. Zum einen sind die spirituellen Voraussetzungen“  von Bedeutung, die Veränderungs- und Wirkungsprozesse anregen können. Hiermit sind die „spirituelle Grundaktivierung der Patientinnen“ und die „spirituell erweiterten Grundhaltungen der Therapeutin“ gemeint, die einen gemeinsamen Resonanzraum bilden. Andererseits sind auch die „spirituellen Wirkungen“ auf die Patientinnen im Hinblick auf ihr „Selbstverständnis und Trauma“ und ihre „Selbstwirksamkeit im Umgang mit Ressourcen“ von Bedeutung. In einem gelingenden Prozess korrespondiert die Ich-Tätigkeit der Therapeut:innen mit der der Patient:innen und stellt einen essenziellen Wirkfaktor zur Genesung dar. Die zentrale Schwierigkeit besteht bei schwer traumatisierten, insbesondere hochgradig dissoziativen Patient:innen darin, die zentral steuernde und integrierende Instanz der Persönlichkeit (das Ich) zu erfahren und sich aktiv darauf zu beziehen. Dieses Bestreben wird hier in den Fokus gerückt. Dies ermöglicht den Betroffenen, eine höhere Selbstwirksamkeit in der Beziehung zu sich selbst und zur Außenwelt zu erlangen und  bietet die Chance, die überwältigenden biographischen Gewalterfahrungen zu integrieren (14).

Die Interviewaussagen weisen darauf hin, dass die traumatisierten Frauen in der Psychotraumatherapie eine tiefe Berührung in sich selbst erfahren haben und daraus eine spirituelle Aktivierung entstanden ist. Dies regte sie zur Selbstentwicklung an, denn trotz ihrer schweren Gewalterfahrungen zeigten die Patientinnen auf verschiedenen Ebenen markante Entwicklungen, die mit den Dimensionen des Posttraumatischen Wachstums nach Calhoun und Tedeschi (15) – von Maercker (16) als Posttraumatische Persönliche Reifung konzeptualisiert – in Verbindung gebracht werden können. Die Autoren beschreiben diese Prozesse als Bewältigungsversuche nach traumatischem Stress, wonach Betroffene  einerseits schwerwiegende psychische und somatische Probleme aufweisen, es andererseits  bei einigen auch einen Anstoß für weitere Entwicklungen geben kann.

Folgende Entwicklungsdimensionen können mit den Ergebnissen dieser Studie in Beziehung gesetzt werden:

  1. Neue Möglichkeiten entwickeln: dies zeigt sich in der Oberkategorie „Selbstwirksamkeit und Ressourcen“ und insbesondere in der Unterkategorie „Neue Ressourcen bilden“.        
  2. Beziehungen zu anderen verändern und vertiefen: dies spiegelt sich  in der Unterkategorie „Beziehung als Ressource“ wider.
  3. Das Leben neu schätzen lernen: wird reflektiert in der „Unterkategorie Selbstakzeptanz“.
  4. Sich der eigenen Stärken bewusst werden: spiegelt sich in der Oberkategorie „Selbstwirksamkeit im Umgang mit Ressourcen“ wider.
  5. Die Intensivierung des spirituellen Bewusstseins: entspricht unserer ersten Oberkategorie „Grundlegende spirituelle Aktivierung der Patienten“ wider.  

Abschließend erscheint uns die konzeptionelle Perspektive einer „Existentiellen Wiedergutmachung“ (17) wesentlich, nämlich die Möglichkeit der Gesundung schwer traumatisierter Menschen trotz einer „tiefgreifenden Verletzung des Grundes und Selbstkerns“ (17, S. 230), die mit einer fundamentalen Selbst-, Leib- und Weltentfremdung (14) und der dauerhaften Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses einhergeht (18). 

Unsere Studie gibt erste Hinweise darauf, dass eine anthroposophisch erweiterte Psychotraumatherapie zu jener Gesundung beitragen kann, und zwar im Rahmen einer tragfähigen, spirituell begründeten Beziehung, in der sich die Patientinnen als Ich-Tätige erleben (19). 

Literaturverzeichnis

  1. Robert Koch Institut (Hrsg.) Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland. Kapitel 8: Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen. Berlin: RKI; 2020. Verfügbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/08_Gewalt_gegen_Frauen.html (13.3.2023).
  2. Reddemann L. Mitgefühl, Trauma und Achtsamkeit in psychodynamischen Therapien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2016.
  3. Egger J W. Menschenbildannahmen in der verhaltenstherapeutischen Psychotherapie. In: Petzold H. Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen. Bielefeld: Aisthesis Verlag; 2015: 447-480.
  4. Heusser P. Empirischer Zugang zum Geist in Anthropologie und Anthroposophie – Folgen für die Medizin. In: Weinzirl J, Heusser P (Hg). Was ist Geist? Wittener Kolloquium für Humanismus, Medizin und Philosophie. Bd. 2. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2014: 193–214.
  5. Mancini A. Psychotraumatherapie und ihre Erweiterung durch die Anthroposophie. Der Merkurstab 2017; 70(4): 278-286. DOI: https://doi.org/10.14271/DMS-20818-DE.
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  7. Steinmann R M. Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität - eine experimentelle, integrativ abgleichende Gegenüberstellung von zwei Definitionen. In: Büssing, A. & Kohls, N. Spiritualität transdisziplinär. Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag; 2011: 37-51.
  8. Gläser J, Laudel G. Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse: Lehrbuch. Wiesbaden: Springer-Verlag; 2010.
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  11. Mayring P, Gläser-Zikuda M. Die Praxis der Qualitativen Inhaltsanalyse. 2. überarb. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Studium; 2008.
  12. Mayring P. Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12. überarb Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Studium; 2015.
  13. Raupp J, Vogelsang M A. Berechnung von Reliabilitätskoeffizienten. Anhang 5. In: Medienresonzananalyse. Eine Einführung in Theorie und Praxis. 2009. Verfügbar unter www.springer.com/de/book/9783531160009 (13.05.2019).
  14. Mancini A. Das Gefühl, dass es da etwas Eigenes, einen unverwechselbaren inneren Kern gibt. In: Bertram M, Kolbe H J (Hg.) Dimensionen therapeutischer Prozesse in der Integrativen Medizin. Heidelberg: Springer Verlag; 2016: 45–63.
  15. Calhoun LG, Tedeschi RG. The Foundations of Posttraumatic Growth: An Expanded Framework. In Calhoun LG,  Tedeschi RG (Eds.) Handbook of posttraumatic growth  Research and Practice. New York: Routledge 2006: 3-23.
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  17. Cöppiccus Lichtsteiner G. Wenn der Lebensfaden brennt. Spirituell-religiöse Erfahrungen. Traumatisierte in der Katathym Imaginativen Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2019.
  18. Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. akt. und erw. Aufl. Stuttgart: UTB; 2009.
  19. Mancini A, Feist-Gröteke O. Erfahrungen sexuell traumatisierter Frauen mit einer anthroposophisch erweiterten Psychotraumatherapie. Der Merkurstab 2021;74(5):395-403. DOI: https://doi.org/10.14271/DMS-21405-DE.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
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https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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