Psychotherapie bei Schmerz in der Palliativmedizin

Matthias Girke, Michael Berthold

Letzte Aktualisierung: 25.08.2020

Die psychotherapeutische Behandlung ist Teil einer multimodalen Schmerztherapie. Sie bezieht sich auf das seelische Erleben und die seelisch-geistige Bearbeitung. Chronische Schmerzen haben eine zumeist lang zurückreichende Biografie. Seelische Traumatisierungen in der Kindheit beispielsweise können sich im Laufe des Lebens „verkörperlichen“ und zu somatischem Schmerz werden. So sind für muskuloskelettale Schmerzsyndrome biographische Zusammenhänge gut bekannt und für die psychotherapeutische Behandlung wesentlich (1).
Auch beim palliativen Patienten sind in der Schmerzerfahrung unterschiedliche Ebenen wirksam. So gibt es die somatischen Ursachen wie z. B. bei Knochenmetastasierung, abdominellen Beschwerden bei Peritonealkarzinose etc. Die Schmerzwahrnehmung und -bewertung wird darüber hinaus durch seelische Erfahrungen beeinflusst: Angst und depressive Stimmungslagen können das Schmerzerleben verändern. Auch eine als nicht mehr sinnvoll empfundene Lebenssituation kann eine Schmerzerfahrung auslösen. Ebenso spielen die soziale Situation und biographische Vorerfahrungen eine wesentliche Rolle. Wir unterscheiden daher zwischen den somatischen Ursachen, den seelischen Dimensionen und der geistigen Ebene in der Schmerzerfahrung (2). Schmerzwahrnehmung und –erleben sind also in hohem Maße von dem seelischen und geistigen Wesen des Patienten bestimmt, welche das Ausmaß des Leidens wesentlich bedingen (3). Umgekehrt kann die psychotherapeutische Behandlung durch unterschiedliche Verfahren die Schmerzwahrnehmung und -erfahrung positiv verändern und Entwicklungsschritte des Patienten in der Auseinandersetzung mit der Erkrankung unterstützen.

Zur Schmerzlinderung kommen in einem multimodalen, integrativen Behandlungsansatz u. a. Verfahren der verhaltensmedizinischen, psychologischen Schmerztherapie zum Einsatz (4, 5, 6):

  • Entspannungs- und Imaginationsverfahren
  • Biografie orientierte Psychotherapie
  • Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen
  • Würdeorientierte Interventionen
  • Sinnbasierte Interventionen
  • Wort- und Bildmeditationen
  • Familienzentrierte Trauertherapie

Diese Verfahren ordnen und stärken die Wesensglieder, führen zu verändertem Erleben des Schmerzes und erhöhter Selbstwirksamkeit und beziehen das soziale Umfeld mit ein.

Dem Schmerz Sinn und Bedeutung geben

In der palliativen Erkrankungsphase steht der Mensch oftmals vor einer Bilanzierung seiner Biografie. Unverarbeitete Konflikte, Traumata und somatoform verschobener Kummer können ihre Verarbeitung verlangen. Der Schmerz kann dafür als Signal und Appell verstanden werden (7). Sterben, Tod (und Geburt) sind zentrale Schwellenerlebnisse des menschlichen Lebens auf der Erde. Auch andere Schwellenübergänge und Krisen in der Biografie sind häufig mit Schmerzen verbunden (8). Schmerzen führen zu einer besonderen Bewusstseinsintensität (Aufwacherlebnis) und in der Folge oftmals zu besonderen Erkenntnisgewinnen und neuen Sichtweisen und Impulsen (9). So kann Schmerz zu einem Geburtshelfer für eine seelisch-geistige Entwicklung werden, die zu neuen Sinnsetzungen führt, aber auch den nachtodlichen Weg des Menschen vorbereitet. Besonders hilfreich sind die sinnorientierten Vorgehensweisen. Die Suche nach dem Sinn kann neue Kräfte entstehen lassen und ist „lebensentscheidend“: „Wer ein Warum kennt erträgt fast jedes Wie“, hat es Viktor Frankl in Anlehnung an Friedrich Nitzsche bezeichnet und zur Grundlage seiner Psychotherapie gemacht (10). Er fordert nicht eine Tiefenpsychologie, sondern – da es um die geistige Sinnfindung im Leben geht –, eine Höhenpsychologie (10, S. 37).

Biografiearbeit, Gesprächstherapie und Psychotherapie sind dem palliativen Patienten und dem sterbenden Menschen auf diesem Weg hilfreiche Begleiter. Die persönliche Auseinandersetzung der Therapeutin/des Therapeuten mit Themen wie Nahtoderfahrungen und anderen Grenzerfahrungen des menschlichen Bewusstseins sind dabei unverzichtbare Grundlagen.

Bewährte Meditationen

Manche Patienten fragen nach einer spirituellen Vertiefung als Kraftquelle und Sinngebung. Hier kommen Wort und Bildmeditationen zur Anwendung. Bildmeditationen können z. B. aus der Märchenwelt (Grimm’sche Märchen) und deren wesentlichen Entwicklungsmotiven entlehnt werden. Oftmals erinnern sich die Patienten an ihre Kindheit („Hatten Sie ein Lieblingsmärchen?“) und gewinnen Ausgeglichenheit und Zuversicht. Die Märchenbilder können in der Maltherapie aufgegriffen und aktiv gestaltet werden und dadurch beide Therapieverfahren sinnvoll ergänzen.
Bei den Wortmeditationen kann der Patient mit einem einfachen Lesen und Sprechen der Sprüche beginnen. Bereits durch ein aufmerksames und lautes Vorlesen vermitteln sie innere Kraft. Je nach Möglichkeit und Wunsch des Patienten werden sie dann „nach innen genommen“ und in der Seele meditativ bewegt.

Bei Angst und Unruhe, die oft den Schmerz begleitet und ihn verstärken können, ist die folgende Meditation eine Hilfe:

Ich trage Ruhe in mir,
Ich trage in mir selbst
Die Kräfte, die mich stärken.
Ich will mich erfüllen
Mit dieser Kräfte Wärme,
Ich will mich durchdringen
Mit meines Willens Macht.
Und fühlen will ich
Wie Ruhe sich ergießt
Durch all mein Sein,
Wenn ich mich stärke,
Die Ruhe als Kraft
In mir zu finden
Durch meines Strebens Macht.

Rudolf Steiner (11, S. 179)

Wenn Patienten in existenzieller Auseinandersetzung mit der Erkrankung stehen, ist oftmals diese kurze Meditation Rudolf Steiners eine besondere Kraftquelle:

Du Geist meines Lebens, schützender Begleiter,
Sei Du in meinem Wollen die Herzensgüte,
Sei Du in meinem Fühlen die Menschenliebe,
Sei Du in meinem Denken das Wahrheitslicht.

Rudolf Steiner (11, S. 190)

Diese Meditation ist überschrieben mit „In Todesgefahr“. Sie wendet sich an den Engel des Menschen, der das Ich-Wesen trägt und Kraft im Denken, Fühlen und Wollen schenkt. Es können dann diejenigen Qualitäten entstehen und gefördert werden, die wir bei vielen Patienten als reife Frucht der Auseinandersetzung mit der Erkrankung bestaunen: Weisheitsvolle Sicht des Lebens als Wahrheitslicht im Denken, dass nicht mehr nur das Persönliche beleuchtet, sondern neue Perspektiven und Sinnsetzungen erkennt, Menschenliebe, die sich nicht mehr egozentrisch, sondern dem Umkreis zugewandt entwickelt und schließlich eine Herzensgüte, die fast wie eine zum Segnen befähigte Kraft in der Patientenbegleitung wahrgenommen werden kann.

Wenn Angehörige eine helfende Hinwendung zum Patienten anstreben, so ist die folgende Meditation geeignet:

Geist Deiner Seele, wirkender Wächter,
Deine Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Deiner Hut vertrautem Erdenmenschen
Dass mit Deiner Macht geeint
Unsere Bitte helfend strahle
Der Seele, die sie liebend sucht.

Rudolf Steiner (12)

Literaturverzeichnis

  1. Buscemi V, Chang WJ, Liston MB, McAuley JH, Schabrun S. The role of psychosocial stress in the development of chronic musculoskeletal pain disorders: protocol for a systematic review and meta-analysis. Systematic Reviews 2017;6(1):224.[Crossref]
  2. Girke M. Schmerzverständnis und Schmerztherapie in der anthroposophischen Therapie. Der Merkurstab 2008;61(5):419-434.
  3. Schopper C. Leibliche, seelische und geistige Aspekte des Schmerzes. Der Merkurstab 2008;61(5):412-418.
  4. Mehnert A. Psychotherapie in der palliativen Versorgung. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 2015;65(09/10):387-397.[Crossref]
  5. Egger JW. Verhaltensmedizinische Therapie für chronische Schmerzpatienten. In: Egger JW. Integrative Verhaltenstherapie und psychotherapeutische Medizin. Wiesbaden: Springer; 2015.
  6. Riedel C. Psychological Care am Lebensende. Psychotherapie in der Sterbe- und Trauerbegleitung. Stuttgart: Kohlhammer; 2017.
  7. Treichler M. Die Botschaft des Schmerzes. Anregung und Orientierung für betroffene, Ärzte und Therapeuten. Frankfurt: Info3 Verlag; 2017.
  8. Glöckler M. Schmerz verstehen und behandeln. Der Merkurstab 2008;61(5):469-473.
  9. Paxino I. Brücken zwischen Leben und Tod. Begegnung mit Verstorbenen. 6. Aufl. Stuttgart: Freies Geistesleben; 2019.
  10. Frankl VE. Wer ein Warum zu leben hat. Lebenssinn und Resilienz. Weinheim: Beltz Verlag; 2017.
  11. Steiner R. Mantrische Sprüche. Seelenübungen II. GA 268. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1999.
  12. Steiner R. Der Tod – die andere Seite des Lebens. Wie helfen wir den Verstorbenen? Worte und Sprüche. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2000.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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