Begleitung des sterbenden Patienten

Matthias Girke, Rolf Heine

Letzte Aktualisierung: 15.05.2021

Wir unterscheiden zwischen dem Sterbeprozess und dem Todesaugenblick. Intensive Entwicklungsprozesse sind mit dem Sterbeprozess verbunden (post traumatic growth)und bestimmen Wesen und Würde dieser entscheidenden Zeit am Lebensende, die den Patienten dadurch wie von seiner Krankheit befreien kann. Wir kennen die körperlichen Vorgänge, genauso aber auch die seelischen Prozesse wie die biografische Rückschau, das Abschiednehmen vom Menschenumkreis als auch die immer wieder beeindruckenden geistigen Entwicklungen. Sterben und der Todesaugenblick gehören zum Leben wie Schwangerschaft und der Geburtsaugenblick. Die leidbelasteten Symptome und auch krankheitsbedingte Last brauchen unsere therapeutische Begleitung.

Der Todesaugenblick ereignet sich gegenüber dem manchmal langen Sterbeprozess momentan und bezeichnet eine Schwelle zwischen dem irdischen Leben und der Nachtodlichkeit. Der Sterbeprozess erstreckt sich dagegen meist über eine längere Zeit. Sein Beginn ist unscheinbar und oftmals nur im Nachherein erahnbar. Im Sterbeprozess unterstützen wir durch palliativmedizinische Begleitung die beeindruckenden Anstrengungen und Aktivitäten des Patienten. Denn Sterben ist eine anstrengende und herausfordernde Aktivität und keinesfalls nur ein „Loslassen“. Der Todesaugenblick ist gegenüber dem Sterbeprozess nicht willkürlich beeinflussbar: Wie der Augenblick der Geburt nicht der bewussten Planung und eigenen Terminfestsetzung entstammt, so auch nicht der Todesaugenblick. Hier hat jeder Mensch seine ganz individuelle Zeit. Der Todesaugenblick gehört zur Weisheit und Komposition des Schicksals, die keine medizinische Intervention beeinflussen sollte.

Wesensgliederwirksamkeit im Sterben

In der Begleitung des sterbenden Menschen sehen wir entscheidende Veränderungen in seinem leiblichen, lebendigen, seelischen und geistigen Wesen. Die körperlichen Veränderungen sind unübersehbar: Der physische Organismus nimmt sich bei konsumierenden Erkrankungen zurück. Die Kachexie betont immer mehr die Form, weniger die Füllgewebe. Jeder Mensch hat seine Gestalt und „Form“. Sie ist Ausdruck und „Sprache“ seiner Individualität und offenbart oftmals neue, bislang nicht gekannte Seiten seines Wesens. Anstelle aufbauender und regenerativer Lebensprozesse überwiegen abbauende Stoffwechselprozesse als Zeichen der geschwächten Lebensorganisation. Oftmals sind die Atmung und die Herzfrequenz beschleunigt und sprechen von einer gesteigerten, abbauenden Wirksamkeit der seelisch-astralischen Organisation. Diese ist dann nicht mehr in der Lage, ein waches und klares Bewusstsein zu entwickeln. Vielmehr bedeuten entzündliche Stoffwechselprozesse Bewusstseinseinschränkung, Müdigkeit, Erschöpfung.  So ist die akute Entzündung mit Müdigkeit und Schlaf verbunden. Wenn sich die seelisch-astralische Organisation frei auf der Grundlage des Nerven-Sinnes-Systems entfaltet, entwickelt sich das wache Bewusstsein, wenn sie umgekehrt vermehrt im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System wirkt, nimmt sich das Bewusstsein zurück. Die schnelle Atmung und hohe Herzfrequenz sind sichtbare Zeichen der vermehrten Stoffwechselaktivität der Wesensglieder des Patienten. Die Lösung der sonst so intensiv mit dem physischen Körper verbundenen Lebensorganisation verlangt eine große Anstrengung der Wesensglieder des Menschen.

Die Ich-Organisation ist mit der Wärme verbunden. Oftmals finden wir eine ausgekühlte Peripherie, kühle Akren und eine gestaute zentralisierte Wärmeorganisation. In der Fieberentwicklung kennen wir zwei Phasen: das Frösteln mit kühlen Akren und zentralisierter Wärmeorganisation und  – meistens nachfolgend – die Fieberentwicklung. Aus dem blassen Fieber wird dann das rote Fieber mit gerötetem Gesicht. In der ersten Fieberphase wirkt das Nerven-Sinnes-System, in der zweiten die Entzündungsprozesse des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems. Die Ich-Organisation kann beim sterbenden Patienten kein Gleichgewicht zwischen diesen beiden polaren Funktionen entwickeln. So beobachten wir einerseits  das Fieber, andererseits kennen wir die ausgekühlte Peripherie.

Wesensgliederwirksamkeit im Todesaugenblick

Mit dem Todesaugenblick lösen sich die Wesensglieder vom Körper: Manche Sterbenden schließen bewusst die Augen oder falten sogar die Hände als willentliche Aktivität der Ich-Organisation und selbstgestalteter Abschluss des Erdenlebens. Das Bewusstsein - und damit die astralische Organisation - nimmt sich zurück, die Atmung beruhigt sich in Frequenz und Atemtiefe mit zunehmenden Atempausen, der Blutdruck fällt bei oftmals noch weiterbestehender tachykarder Herzfrequenz. Die Lebensprozesse sind umfassenden Abbauprozessen gewichen. Der physische Körper wird zunehmend aus den integrierenden Kräften des menschlichen Wesens entlassen und den Gesetzmäßigkeiten der äußeren Natur übergeben. So folgt die Flüssigkeit des Leibes nicht mehr den Lebensprozessen des Organismus, sondern verfällt z. B. in Ödemen und Anasarka der Schwere. Im Todesaugenblick entsteht eine berührende atmosphärische Dichte im Raum;  Stille und Erhabenheit dieses Augenblickes werden erlebbar. Der Todesaugenblick gehört zu den heiligen Zeiten unseres Lebens und berührt in ähnlicher Weise wie der Augenblick der Geburt mit dem erstmaligen Begegnen des Kindes.

Die medikamentöse Begleitung im Sterbeprozess (End-of-life-care)

Die folgenden Empfehlungen beziehen sich auf die Sterbephase im Sinne des End-of-life-care. Wir unterscheiden sie von den Behandlungsbedarfen der palliativen Erkrankungsphase (siehe Angst: https://www.anthromedics.org/PRA-0563-DE , Schmerz: https://www.anthromedics.org/PRA-0585-DE , Dyspnoe: https://www.anthromedics.org/PRA-0589-DE , Ödeme: https://www.anthromedics.org/PRA-0591-DE , Bedeutung des Bewusstseins: https://www.anthromedics.org/PRA-0957-DE ).

Weihrauch, Gold und Myrrhe sind drei wichtige Substanzen, die beim Sterbenden eingesetzt werden. So steht Aurum mit der Wirksamkeit der Ich-Organisation in Beziehung, Weihrauch mit der astralischen und Myrrhe mit der ätherischen Organisation. Seelisch wirken sie auf das Denken, Fühlen und Wollen des sterbenden Menschen.

  • Olibanum comp. Amp. WELEDA : bis mehrmals täglich s. c.
  • Aurum comp. Amp. WELEDA : bis mehrmals täglich s. c.

Zusammensetzung der genannten Arzneimittel: Olibanum comp.: Aurum metallicum praeparatum D30, Olibanum D12,Myrrha D6. Aurum comp.: Aurum metallicum D6, Olibanum D3, Myrrha D3.

Dabei scheinen sie bei Entscheidungen zu „helfen“: Manchmal lässt sich beobachten, wie in zeitlichem Zusammenhang mit einer derartigen Medikation z. B. eine somnolente Bewusstseinslage sich wieder klärt und Tage eines helleren, der Mitwelt zugewandten Bewusstseins folgen. Auf der anderen Seite löst sich nach dieser Medikation oftmals die Individualität leichter vom Körper. Sie ist selbstverständlich kein „Sterbearzneimittel“, sondern ordnet die Wesensgliederwirksamkeit und ermöglicht der Individualität, eine schicksalsgemäße Entscheidung zu treffen und zum rechten Augenblick zu vollziehen. So kommt diesen Arzneimitteln in der Begleitung des sterbenden Menschen eine wesentliche Bedeutung zu. Die drei Substanzen weisen auf ihre ursprüngliche Gabe durch die drei Könige hin: „Sie brachten dem Kind Gold, das Symbol der äußeren, weisheitsvollen Macht, Myrrhen, das Symbol des Sieges des Lebens über den Tod, und endlich Weihrauch, das Symbol des Weltenäthers, in dem der Geist lebt“, charakterisierte es Rudolf Steiner vor mehr als 100 Jahren (2).

Aurum verbindet die Qualitäten von Licht und Schwere . Damit nimmt es die Situation des sterbenden Menschen auf, der sich der Schwere seines Leibes oft durch Unruhe und Versuche des Sich-Abdeckens, Entkleidens oder gar durch das versuchte Aufstehen entledigen will, um sich dem schon gefühlten Licht zu nähern. 

  • Aurum metallicum praeparatum D10 Amp. WELEDA : bis mehrmals täglich s. c.

Aurum gehört deswegen zu den wesentlichen Arzneimitteln für den sterbenden Patienten.

Kasuistik: Eine Patientin mit weit fortgeschrittenem Ovarialkarzinom befindet sich in unserer palliativen und hospizlichen Betreuung. Kurze Zeit vor ihrem Tode berichtete sie der Schwester von ihrem derzeitigen Erleben: „Es ist alles so unendlich finster.“ Unmittelbar nach der Injektion von Olibanum comp. wandelte sich das innere Erlebnis und die Patientin sagte: „Es ist alles so hell geworden!“ (3)
Diese Kasuistik macht darauf aufmerksam, wie sich bei einem äußerlich ruhigen, dem Todesaugenblick nahen Patienten intensive innere Erlebnisse ereignen, auf die Pflegende und Ärzte achten sollten, um die spezifischen Arzneimittelanwendungen zu finden. 

Äußere Anwendungen in der Krankenpflege

Eine besondere Bedeutung gewinnen die äußeren Anwendungen in der Krankenpflege. Viele Sterbende berichten über Beklemmungen in der Brust, die durch

  • Aurum / Lavandula comp. Creme WELEDA: 1 x täglich

als Herzsalbenauflage eine wesentliche Besserung erfahren.

Diese Beschwerden beruhen auf dem Lösungsprozess der Wesensglieder, der mit dem Herzen in einer engen Beziehung steht: „Die Erscheinung des Todes geht so vor sich, dass sich im Moment des Todes der Zusammenhang, der zwischen dem Äther- und Astralleib einerseits und dem physischen Leib andererseits besteht, namentlich im Herzen löst. Eine Art Aufleuchten findet statt im Herzen, und dann hebt sich über den Kopf heraus Ätherleib, Astralleib und Ich.“ (4)

Eine beeindruckende Schilderung dieses Aufleuchtens überlieferte Michael Bauer (1871 – 1929), der den Tod Christian Morgensterns (1871 – 1914) erlebte: Durch mehrere Zimmer getrennt, hatte Michael Bauer dies stille Sterben geistig miterlebt. Er sagt, er habe im Augenblick, als des Freundes Seele die körperliche Hülle verließ, „ein goldenes Lichtmeer aus seinem Herzen brechen sehen, das das ganze Lager mit Glanz und Licht überflutete“ (5). Aber auch Kinder berichten von diesem Licht. Ein 11-jähriger Junge erfuhr es in seiner schweren Erkrankung und brachte dieses Licht mit dem „großen Herzen“ der Welt, der Sonne, in Verbindung: „Ich strömte einfach aus meinem Körper heraus … Ich hörte jemanden singen … Es wurde hell, so wie mitten in der Sonne. Aber ich wurde nicht geblendet, ich war selber auch nur eine Art Licht. Der Gesang wurde lauter …. Er war in mir gerade so, als sänge ich ihn selbst“ (6). Oftmals erleben Sterbende Musik, ein Klingen in unterschiedlichen Qualitäten. Die klangähnlichen Gesetzmäßigkeiten der Welt, die als Sphärenharmonie in alten Mysterien bekannt waren, nimmt die Seele auf und vermischt sie häufig mit Erinnerungen („Hören Sie auch, wie oben gespielt wird?“).

Die abendliche Einreibung gehört zu den wesentlichen Anwendungen und erleichtern den Patienten das Einschlafen:

  • Cuprum metallicum praeparatum 0,4 % Salbe WELEDA: 1 x täglich

und bei Bedarf

  • Kupfer Salbe rot WALA: 1 x täglich und bei Bedarf

oder mit

  • Lavendelöl 10 % WELEDA: 1 x täglich und bei Bedarf

bzw.

  • Lavandula, Oleum aethereum 10 % WALA: 1 x täglich und bei Bedarf.

 Am Morgen belebt und erfrischt die Anwendung von

  • Zitrone als Zusatz beim Waschen.

Diese und weitere pflegerische Maßnahmen unterstützen den auch für den schwerkranken Patienten wesentlichen Tagesrhythmus von Wachen und Schlafen.

Die Rose hat eine besondere Bedeutung in der therapeutischen Begleitung des sterbenden Menschen und hat eine harmonisierende Wirkung. Goethe wies in der Tragödienszene des sterbenden Faust auf die Wichtigkeit der Rose für den sterbenden Menschen hin: Im Ringen mit Mephistopheles um das Unsterbliche des Faust, streuen Engel Rosen, um Faust in der Auseinandersetzung mit dem Bösen zu helfen, „als Symbolum der geistigen, von oben kommenden Liebe“, charakterisierte es Rudolf Steiner (7).

Als äußere Einreibung findet das Rosenöl Anwendung:

  • Rosa e floribus 10 % Oleum WALA: 1 x täglich und bei Bedarf

Auch die bereits erwähnte Aurum/Lavandula comp. Creme enthält ätherisches Rosenöl.

Andere äußere Anwendungen unterstützen wirkungsvoll die medikamentöse Schmerztherapie .

Bei abdominellen Beschwerden bewährt sich der Oxalis-Wickel:

  • Oxalis e planta tota W 10 % Oleum WALA: 1 x täglich
  • Oxalis, Folium 10 % Salbe WELEDA: 1 x täglich

und bei meteoristischem Abdomen

  • Melissenöl WALA: als lokale Einreibung oder Öllappen (8).

Bei krampfartiger abdomineller Schmerzsymptomatik bestehen positive Erfahrungen mit

  • Chamomilla e floribus W 10 % Oleum WALA: als lokale Einreibung oder Öllappen (9).

Oberbauchbeschwerden, z. B. bei Lebermetastasen, Leberkapselschmerz, lindert oftmals der

Des Weiteren bietet bei Schmerzsyndromen, z. B. bei Knochenmetastasen, eine wertvolle Hilfe (10):

  • Solum Öl WALA: als Ölwickel oder Einreibung, 1 x täglich und bei Bedarf.

Dieses Öl kann eine Hülle geben und damit einen Schutzraum aufbauen.

Die Pentagramm-Einreibung (siehe auch https://www.pflege-vademecum.de/pentagrammeinreibung.php ), durchgeführt mit Aurum / Lavandula Creme, stellt besonders in Sterbeprozessen, die als stockend erlebt werden, eine wichtige Entscheidungs- und Entwicklungshilfe dar. Sie kann ergänzt werden durch die TAO Töne der Leier (h-a-e-d), die für das Viergetier (Mensch, Stier, Löwe und Adler) stehen, und so die Vierheit mit der Fünfheit des Pentagramms verbinden (11).

Die Pflege der äußeren Umgebung des Patienten spielt eine wesentliche Rolle. Manchmal prägen die Besonderheiten und auch die Eigenheiten des sich lösenden Menschen sein unmittelbares Umfeld. Auf der einen Seite gehört dies zu seinem ganz Persönlichen und verdient unsere Anerkennung, zum anderen breiten sich mitunter Eigentümlichkeiten aus, für deren Korrektur der Patient dankbar ist.

Dem neugeborenen Kind vergleichbar, entwickelt sich auch der sterbende Mensch zunehmend zu einem Sinneswesen und lebt dann verstärkt wie im Umkreis. Aus diesem Grund sind die Gestaltung des Zimmers als unmittelbare Umgebung des Patienten, aber auch das Achten auf die Licht- und Wärmeverhältnisse von besonderer Bedeutung. Darüber hinaus bestimmt die innere Haltung derjenigen Personen, die dem kranken Menschen in ihren unterschiedlichen Funktionen während des Tages begegnen, die Atmosphäre.

Die Heileurythmie und die künstlerischen Therapien

In der Zeit eines längeren Sterbeprozesses gewinnen die künstlerischen Therapien eine besondere Bedeutung. Ihre Auswahl richtet sich nach den individuellen Möglichkeiten und Erfordernissen des Patienten und seiner schnell  bemerkten Wirksamkeit. Die Heileurythmie greift die dem Patienten unter Umständen schon vertrauten Übungen in kleinen Bewegungen auf, die auch dem Bettlägerigen möglich sind. Auch kann man dem Patienten die Heileurythmie vormachen. Er vollzieht sie durch sein aktives Wahrnehmen dann innerlich. Eine wichtige heileurythmische Übung ist das sogenannte „Halleluja“.

Durch einen längeren Übungsweg in der Maltherapie entstehen neue Qualitäten. Stand beispielsweise in den ersten Phasen dieser künstlerischen Therapie die Bearbeitung des Krankheitsprozesses im Vordergrund und schlossen sich dieser Thematik im Weiteren Aufgabenstellungen an, die Ausdruck des seelischen Erlebens sind, so gewinnen die in der letzten Phase gestalteten Bilder häufiger motivische Züge. Die Grimm’schen Märchen sind dabei wichtige Motive. In diesen intensiv erlebten Bildern drückt sich das ewige geistige Wesen in seinen vergänglichen Hüllen aus und weist den Menschen jenseits jeglicher Abstraktion auf seinen inneren, unzerstörbaren Wesenskern. Manchmal gestalten Patienten in den Bildern das Motiv des Wassers oder das des Abgrundes. Gelegentlich malen sie auch das Licht, das als Helligkeit dem Sterbenden im Todesaugenblick entgegenleuchtet.

Der Musiktherapie kommt in der Begleitung eines sterbenden Menschen eine besondere Bedeutung zu. Sie mildert Angst, Unruhe und Anspannung und spricht geistige Inhalte durch den Ton an, die zur Kraftquelle für den Patienten werden. Ein geeignetes Instrument ist die Leier.

Die therapeutischen Qualitäten der Töne und Intervalle wirken in differenzierter Weise auf die Dreigliederung des Angsterlebens, also der schreckartig-bewusstseinsbetonten Angst, der im Rhythmischen System erlebten und schließlich der mit Unruhe und innerlicher Erregung verbundenen Angst. Dem sterbenden Menschen ist manchmal ein ihm bekanntes Lied eine trostreiche Hilfe. Schließlich bringen musikalische Motive oder kleine Stücke eine geistige Botschaft, die sich zu einer starken Kraft für den Durchgang durch diese Phase entwickelt. Hiervon berichten die tiefen Schilderungen Dietrich Bonhoeffers (1906-1945). Kurz vor seiner Hinrichtung stehend beschrieb er die Bedeutung der Musik und hier vor allem eines besonderen Musikstücks Beethovens (1770 1827): „Es ist merkwürdig, wie die nur mit dem inneren Ohr gehörte Musik, wenn man sich ihr gesammelt hingibt, fast schöner sein kann als die physisch gehörte; sie hat eine größere Reinheit, die Schlacken fallen ab; sie gewinnt einen ‚neuen Leib’! Es sind nur einige wenige Stücke, die ich so kenne, dass ich sie von innen herhören kann; aber gerade bei den Osterliedern gelingt es besonders gut. Die Musik des tauben Beethoven wird mir existenziell verständlicher, besonders gehört für mich dahin der große Variationssatz aus Opus 111 …“ (aus dem Gefängnis Berlin-Tegel, 2.4.1944) (12).

Entwicklung im Sterben

Der Sterbeprozess lässt drei Stufen und Entwicklungsschritte erkennen. Zunächst weisen die bis zuletzt beobachtbaren Heilungsprozesse auf Lebenskräfte, die der Leibbildung zugrunde liegen und ihn immer wieder regenerieren. Bis „zuletzt“ heilt eine Wunde, und vermittelt dem Patienten dadurch das Erlebnis, auch leiblich wieder „ganz“ zu werden, seine körperliche Integrität zu erreichen und eine Verletzung zu überwinden. Diese aufbauenden Lebenskräfte werden von einer umfassenden Ordnung und Weisheit gelenkt und geleitet, die in allen Gestaltungen und Funktionen des menschlichen Leibes zu erkennen ist. Sie stammen aus einer Welt, die zum Urgrund unseres Seins gehört und als „Vater-Welt“ gilt. Aus diesem Göttlichen wird der Mensch geboren, aus ihm stammen alle aufbauenden, leibbildenden Wirksamkeiten während des Lebens.

Demgegenüber erscheint das Sterben vom leiblichen Aspekt als ein „Entwerden“, als ein „Verwesen“ im eigentlichen Wortsinn, indem sich aus der vergänglichen Sinneserscheinung des leiblichen Daseins das unvergängliche Wesen herausringt. Diesem geistigen Geborenwerden dienen die enormen Anstrengungen, die der Sterbende auf sich nimmt, unter denen er mitunter so stark leidet und die unsere therapeutische Hilfestellung herausfordern. Das Sterben ist mit dem geistigen „Geborenwerden“ verbunden. Tod und Auferstehung und damit die Beziehung zu der Christus-Wesenheit erscheinen im individuellen Abbild in dieser entscheidenden Phase des Lebens. Das mit dem Todesaugenblick beginnende Geborenwerden in der Welt jenseits der Sinneswahrnehmungen steht in Verbindung mit der Auferstehungskraft, die dem sich in der anderen Welt einfindenden Menschen entgegenleuchtet. Jedes Sterben ist kein „der Krankheit Erliegen“, wie es so oft in Todesanzeigen heißt. Vielmehr erscheint die Krankheit überwunden und nicht mehr notwendig. Eine höhere Gesundung ist erreicht. Das Gefühl innerer Gesundheit, von dem einige Patienten berichten („eigentlich bin ich doch gesund“), deutet auf diese Entwicklung und man darf es nicht als illusionistische Verkennung der bestehenden Situation missdeuten, sondern auf das sich innerlich erfahrende und vom Leib lösende Wesen des Menschen beziehen.

Schließlich ereignen sich entscheidende Veränderungen des Bewusstseins, indem sich die Augen für die Diesseitigkeit schließen und sich neu für das Licht der geistigen Welt öffnen, von dem die Nahtod-Erfahrungen so eindrücklich berichten. Diese bewusstseinserhellende, „erleuchtende“ Qualität steht mit dem „Heiligen Geist“ in Beziehung. Nicht von ungefähr sind „heilig“ und „heilend“ sprachverwandt. Der Patient erlebt Phasen, die sich – auch beim sterbenskranken Menschen – einerseits auf die leiblichen Heilungsprozesse beziehen, andererseits die Lösung vom Leib im Sterben auf dem Weg zur geistigen Geburt umfassen und schließlich zum Erwachen in dem der geistigen Welt zugewandten Bewusstsein führen.

Literaturverzeichnis

  1. Aus: Girke M. Innere Medizin. Grundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin. 3. Aufl. Berlin: Salumed Verlag; 2020.
  2. Steiner R. Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. GA 96. Vortrag vom 17.12.1916. 2. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989.
  3. Diesen Hinweis verdanken die Autoren Anja Girke.
  4. Steiner R. Vor dem Tore der Theosophie. GA 95. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1990, S. 30-31.
  5. Bauer M. Gesammelte Werke Band 3: Christian Morgensterns Leben und Werk. Stuttgart: Verlag Urachhaus; 1985, S. 377.
  6. Schwenk A. Ich konnte nicht mehr länger leben. Unterlengenhardt: Gesundheit aktiv; 2006; S. 16.
  7. Steiner R. Faust, der strebende Mensch. Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes „Faust“. GA 272. Vortrag vom 4.9.1916. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1981.
  8. Verfügbar unter https://www.pflege-vademecum.de/2714.php (01.03.2021).
  9. Fingado M. Therapeutische Wickel und Kompressen. 6. Aufl. Dornach: Natura Verlag im Verlag am Goetheanum; 2012.
  10. Diesen Hinweis verdanken die Autoren Rolf Heine.
  11. Diesen Hinweis verdanken die Autoren Katrin Klatt.
  12. Ruprecht E. Tod und Unsterblichkeit. Band 3: Vom Realismus bis zur Gegenwart. Stuttgart: Verlag Urachhaus; 1993, S. 446.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin