Heileurythmie in der Schwangerschaft und Geburtsvorbereitung

Mechthild Groh-Schulz

Letzte Aktualisierung: 17.04.2019

Mit der Empfängnis eines Kindes entwickelt sich nicht nur das Kind, auch die werdende Mutter kommt in einen Prozess ständiger Veränderung. Diese Veränderungen können sich körperlich und seelisch zeigen durch Übelkeit, gesteigerte Geruchsempfindung, allgemein gesteigerte Empfindsamkeit, bildhaftere Gefühle und Träume, auch verbunden mit einer starken Müdigkeit und Erschöpfung. Die Mutter gibt dem Kind in ihrem Körper Raum, was durch ein verändertes Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele bei der Mutter möglich wird. Ein neues Gleichgewicht bei der Mutter, z. B. zwischen Raum geben und Eigenerleben, muss sich finden. Entsteht ein deutliches Ungleichgewicht, können Hyperemesis, Stoffwechselstörungen und vorzeitige Wehen auftreten.

Die Heileurythmie kann bei diesen Symptomen eine begleitende Unterstützung sein.

Was ist Eurythmie?

Das Wort „Eurythmie“ bedeutet „guter Rhythmus“.

Alle Vorgänge um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind in besonderem Maße von rhythmischen Prozessen getragen – wie der Rhythmus der Periode, die 40 Wochen der Schwangerschaft, der Wehenrhythmus, der Stillrhythmus. Wir üben in der Heileurythmie mit rhythmischen Bewegungen den Wechsel von Bewegung und Ruhe, Anspannen und Loslassen. Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf den Übergängen zwischen beiden Polen. Eurythmie hilft, von aktiver Bewegung zur Ruhe zu finden. Die genannten Übungen ermöglichen z. B., sich selbst und das Kind zu beruhigen und wahrnehmen zu können. Es entsteht ein Bewusstsein von zeitlichen Abläufen, eine bessere Eigenwahrnehmung und die Fähigkeit zu nonverbaler Kommunikation.

Abb. 1: Gemeinsame Heileurythmie von Therapeutin und Schwangeren. © Mechthild Groh-Schulz 

Grundlage dieser Bewegungstherapie sind die Elemente der Sprache und der Musik.

  • Auf der körperlichen Ebene können Stoffwechselprozesse durch Bewegungen und Rhythmen, die den entsprechenden physiologischen Prozessen der Organe entsprechen, angeregt oder beruhigt werden. Hierfür werden vor allem die Konsonanten in Bewegungen umgesetzt. Stabilisierenden Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System können die Vokale mit ihrer wärmenden und ausgleichenden Wirkung haben.
  • Auf der seelischen Ebene können Vertrauen und Sicherheit durch strukturierende Übungen gefunden werden. Sie verhelfen zu besserer Konzentration und Orientierung und dazu, sich in seinem Körper mehr beheimatet zu fühlen. Es werden die Raumrichtungen Oben – Unten, Rechts – Links, Innen – Außen geübt sowie Leichte und Schwere erfahrbar gemacht. 

Durch Wärme und Zentrierung bildet sich eine innere Verbindung zum Kind. Diese Verbindung trägt dann auch Gefühle, die in einer Schwangerschaft verstärkt auftreten und zugelassen werden wollen, ohne dass sie eine Haltlosigkeit verursachen (1).

Indikationen für Heileurythmie in der Schwangerschaft

Hyperemesis gravidarum

Bei einer Hyperemesis kann durch heileurythmische Übungen die seelische Verbindung zum Leib gefördert und gefestigt werden. Stoffwechselprozesse werden angeregt, eine Vertiefung der Atmung wird möglich, der Brechreiz kann sich beruhigen. Das Annehmen der neuen Situation wird leichter.

  • In der Praxis hat sich gezeigt, dass in ausgeprägten Fällen nur strukturierende Übungen im Sitzen oder Liegen mit den Füßen hilfreich sind:  
    Vokale A – U – E – I .
  • Es braucht in weiterer Folge ein vorsichtiges Anregen der Stoffwechseltätigkeit durch ruhiges Gehen, um Bezug zur Schwerkraft aufzunehmen:
    Hexameter 1:4, Wiegenlied 4 oder 8 Schritte, Pause erleben.  
  • Hat sich der Zustand gebessert, können die Arme einbezogen werden. Auch hier sind eher strukturierende Übungen angezeigt:
    Vokale O – E oder A – E , evtl. B.

Abb. 2: Gemeinsame Heileurythmie-Übung „E“ zum Erfahren von Grenze und Struktur. © Mechthild Groh-Schulz 


Stoffwechselstörungen Meteorismus und Obstipation

Bei speziellen Stoffwechselbeschwerden wie Meteorismus und Obstipation gelten die Angaben im Heileurythmie-Kurs von Rudolf Steiner (2). Hier beschreibt er, dass für die schwangere Frau die gleichen Behandlungsansätze für Stoffwechselproblematiken gelten, wie sie auch für nicht schwangere Personen durchzuführen sind. Der Unterschied liegt in der Intensität: In der Schwangerschaft müssen diese Lautbewegungen dem Zustand der Schwangerschaft angepasst werden, d. h., dass die Angaben zur Heileurhythmie ohne Sprünge und in einer „leiseren“ Form angewandt werden können (2, S. 123).

Vorzeitige Wehen

Bei Neigung zu vorzeitigen Wehen und / oder seelischer Anspannung sind öffnende und fließende Bewegungen hilfreich. Das Element des Wassers, das sich strömend und ohne eigene Spannung hingeben kann, bietet viele Bewegungsbilder. M und L können das Element des Wassers vermitteln.

Der Laut M ist eine ruhig dahinströmende Lautgeste, die die Ausatmung anregt. Im Heilpädagogischen Kurs führt Rudolf Steiner aus: „Das M ist dasjenige, was […] den ganzen Organismus in die Ausatmung hineinlegt […]“ (3, S. 163).

Das M kann mit dem ganzen Körper, mit Armen, Händen, Fingern und Füßen durchgeführt werden sowie mit dem einfühlenden Neigen der Stirn und dem Loslassen des Beckens im Bereich der Lendenwirbelsäule.
Diese Übungen können Weite und Entspannung ins Becken bringen.

Der Laut L – gut erlebbar im Bild einer Welle, einer dynamisch fließenden runden Bewegung, im rhythmischen Steigen und Fallen des Wassers – ist bis in den Flüssigkeitsorganismus des Menschen wirksam. Diese Bewegung bringt Auflösen und Verdichten in ein Wechselspiel.

Abb. 3 Gemeinsame Heileurythmie-Übung „M“, eine strömende und entspannende Lautgeste. © Mechthild Groh-Schulz 

Fallbeispiel einer Patientin mit vorzeitigen Wehen

Anamnese: Bei Frau K. besteht seit längerer Zeit ein erhöhter Muskeltonus der Gebärmutter, der sich oft erst nach 10 – 20 Minuten löst. Außerdem sind eine flache Atmung, kalte Hände und Füße sowie eine sorgenvolle Stimmung wahrnehmbar.

Behandlung 1. Stunde: Beginn mit einem Wiegenlied. Wir üben mit den Händen ruhiges Zusammenziehen (Anspannen) und Öffnen (Lösen). Dies geschieht im Sinne einer atmenden Bewegung mit dem Ziel, nicht in einem Extrem hängenzubleiben, sondern darauf zu achten, das Zusammenziehen nicht zu fixieren und direkt wieder ins Lösen zu wechseln. Bei Frau K. fällt auf, dass sie zu schnell in eine angespannte Haltung kommt und nach längerem Festhalten ohne Übergang loslässt. Ihre Bewegung schnappt von einem Extrem ins andere, ohne in einen vermittelnden Prozess zu kommen.

Der Hinweis, dass Organrhythmen viel langsamer sind – eher wie Bewegungen in der Tiefsee oder wie bei einer Blüte, die sich langsam in der Sonne öffnet und abends wieder schließt – hilft Frau K.,
Übergänge zu gestalten und mit der Zeit ihren Atem damit zu verbinden. Der Zusammenhang von Atmung und Wehentätigkeit ist in der Geburtshilfe bekannt und so arbeiten wir auch in weiterer Folge an einer rhythmischen Atmung mit Betonung der Ausatmung.

Behandlung im Verlauf: Im Weiteren arbeiten wir mit der Lautgebärde M. Die Arme vollziehen den Laut M nach, Sprache und Bewegung formen das M. Jeder Mensch, egal welcher Herkunft, erlebt diese Sprachgeste als Schmecken (mmh …), Fühlen und Tasten (mmh ...) und als „Ich verstehe“. Diese Sprachgebärde fördert das Hineinlauschen und -fühlen. Ein „ah“ („Ich habe verstanden“) kann folgen und das Ich kann mit etwas in Beziehung gehen. M ist immer ein Hin- und Herschwingen, also in Beziehung kommen.

Abschlussbefund: Im Laufe der Zeit vertieft sich die Atmung und die Krampfneigung geht zurück. Der Uterus wird weicher und kann sich schneller wieder entspannen. Auch die Schlafqualität verbessert sich im Laufe der Behandlung. Frau K. wirkt zuversichtlicher und berichtet, auch eine bessere Verbindung zu ihrem Kind zu spüren.

Heileurythmie zur Geburtsvorbereitung

Am Ende der Schwangerschaft haben sich heileurythmische Übungen zur Vorbereitung auf die Geburt bewährt, die auch in Kursen vermittelt werden. Diese sollten nicht als bloße „Technik“ betrachtet werden. Die unter der Geburt hilfreichen Entspannungs- und Atemübungen bekommen durch die Qualität der Eurythmie einen ganzheitlichen Charakter, der alle Ebenen – Körper, Seele und Geist – verbinden kann. Insgesamt entsteht ein besseres Körpergefühl. Der Atem wird nicht beobachtet, sondern kann frei mit dem Geschehen fließen. Haltung und Bewegung können dadurch individuell und geistesgegenwärtig gefunden werden.

Es kann beobachtet werden, dass durch die Stärkung von Rhythmus Wehenschwächen unter der Geburt vorgebeugt werden kann – eine wichtige Voraussetzung für einen guten Geburtsverlauf für Mutter und Kind.

In der Praxis hat sich gezeigt, dass diese Geburtsvorbereitung darüber hinaus von den Müttern als Hilfe im Umgang mit dem neugeborenen Kind erlebt wird. Eurythmische Übungen wecken die Wahrnehmung für die zeitliche Gestaltung des Lebens und schärfen die Aufmerksamkeit dafür. Der Tagesrhythmus von Wachen und Schlafen, aber auch die Gliederung des Jahres und das Erleben des Wochenrhythmus geben Orientierung und bedeuten gerade für kleine Kinder eine tragende Kraft. So müssen zu Beginn des Lebens Atmen, Schlafen, Verdauen, aber auch Zusammensein im Wechsel zu Alleinsein erst gelernt werden.

Abb. 4: Gemeinsame Heileurythmie-Übung in der Geburtsvorbereitung. © Mechthild Groh-Schulz 

Literaturverzeichnis

  1. Groh-Schulz M. Heileurythmie in der Schwangerschaft – Ein Fallbeispiel. Der Merkurstab 2018;71(5):387-392.
  2. Steiner R. Heileurythmie. GA 315. 5. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 2003.
  3. Steiner R. Heilpädagogischer Kurs. GA 317. Vortrag vom 06.07.1924. 8. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1995.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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