Musiktherapie zur Unterstützung und Pflege des Bewusstseinsraumes palliativer Patienten

Viola Heckel

Letzte Aktualisierung: 15.12.2020

Man muss den Dingen die eigene Stille und ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. (R. M. Rilke)

In der palliativen Situation führt die Musiktherapie zu Erleichterung und Entspannung (1). Darüber hinaus wird häufig ein Zur-Ruhe-kommen als wichtiges Erlebnis geschildert, das auch mit einer Entlastung von Schmerzen und Ängsten verbunden ist. Beim Lauschen auf die live vorgespielte und/oder gesungene Musik der Therapeutin oder des Therapeuten taucht der Patient mit seiner Seele ganz in das musikalische Erleben ein. Der meist überwache Nerven-Sinnes-Pol verliert seine Dominanz – das Gedankenkarussell wird losgelassen – der Atem wird freier und tiefer. Viele Patienten hören mit geschlossenen Augen zu oder sie schlafen bei der Musik ein und wachen dann erfrischt wieder auf. Worte wie „das war schön“ sind Ausdruck einer neuen inneren Gestimmtheit. Aus der erlebten inneren Ruhe kann auch der Impuls zur Eigenaktivität erwachsen, z. B. zusammen mit der Therapeutin zu singen oder ein Instrument erklingen zu lassen.

Wenn die sprachliche Verständigung eingeschränkt oder nicht möglich ist, greift die Musiktherapie. Das musikalische Erleben regt den Kontakt zur eigenen Innenwelt an und die Beziehungsfähigkeit wird gefördert. Bei Erinnerungsverlust bedingt durch dementielle Veränderungen regen musikalische Eindrücke sowie das Singen von bekannten Liedern Eigenaktivität und seelische Ausdrucksfähigkeit an. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Melodien und Liedtexte im Unterschied zu sprachlichen Inhalten meist noch erinnert werden können.

Musiktherapeutische Begleitung und Empfehlungen

  • Hirnorganisch bedingte Bewusstseinsminderungen – z. B. durch Gehirntumor, Gehirnmetastasen, intrazerebrale Blutungen – sind mit innerer Verunsicherung verbunden. Musiktherapie kann Vigilanzstörungen positiv beeinflussen, beruhigen und entängstigen. Der Hörprozess bündelt die Aufmerksamkeit, über die klangliche Ebene können die Lebenskräfte gestärkt werden. Musiktherapeutische Interventionen vermitteln neue Orientierung und Vertrauen. „Die Musik führt mich zurück ins Leben“ (Zitat einer Patientin). Zu empfehlen sind hier Instrumente in tieferer Tonlage, wie Altleier, Taoleier, Kantele, Tenor- oder Bass-Gemshorn, Gong (Hand geschmiedet), Metallophon sowie Gesang.

  • In der palliativen Erkrankungsphase stellt sich ein anderes Hören ein. Der Raum um den Patienten weitet sich. Das Bewusstsein wirkt weniger punktuell und umso mehr Anwesenheit entsteht im Umraum. Die strömenden Klänge der Tao-Leier können wärmende Prozesse anregen, indem das Instrument erst im Umkreis und dann am Körper selbst gespielt wird, z. B. an den Füssen oder Händen.

  • Da Erinnerungen das Gefühl der Identität stärken, ist es für den palliativen Patienten wertvoll, die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen – auch die musikalischen – zu erinnern und gegebenenfalls zu verwandeln.  Wenn biografisch keine musikalischen Vorerfahrungen bestehen, der Patient jedoch dafür offen ist, bietet die Musiktherapie einen Raum dafür, den in jedem Menschen verborgenen „Musiker″ zu entdecken. Indem die Seele ins Schwingen kommt, werden die in ihm schlummernden heilkräftigen Potentiale geweckt: Das Aufatmen nach einer Hörtherapie mit der Leier, der geklärte Blick zeigen dann eine Befriedung . Verständnis und Akzeptanz für das eigene Schicksal können daraus erwachsen. Das spirituelle Erleben kann so durch Musik angeregt und genährt werden (2).

  • In dem Bedürfnis, bis zuletzt etwas Neues aufnehmen zu wollen, klingt ein Entwicklungsmotiv an: Eine Patientin in finaler Phase fühlte sich „im Geiste erfrischt“, als ihr die Therapeutin auf der Leier eine Hörtherapie vorspielte, die sie bisher noch nicht kannte.

Musikalische Aspekte

Die verschiedenen Intervallstimmungen sprechen unterschiedliche Lebensräume und Bewusstseinszustände an. Hier eröffnen sich Möglichkeiten, um im Zusammenhang mit den großen Lebensbewegungen von Inkarnation und Exkarnation therapeutische Antworten zu finden. Die „atmende“ Quint vermittelt zwischen dem Innen- und Außenraum, während sich mit dem Terzerleben seelische Innenraumbildung vollzieht. Die Septim führt weit in den Umkreis. Das dissonante Klangerleben erzeugt eine Spannung durch die der Hörer hindurchhören und dann Halt finden kann. Dazu bedarf es der Tonqualität einer Leier oder Gesang.

Forschung

Über die modernen bildgebenden Verfahren können neuronale Reaktionen auf musikalische Eindrücke sichtbar gemacht werden, z. B. auf das limbische System, auf das vegetative Nervensystem etc. Angeregt werden ebenso neuroplastische Vorgänge. In der Musiktherapieforschung gewinnen Untersuchungen zur neuronalen Wirkebene zunehmend an Bedeutung und bilden – neben der seelischen und geistigen – die leibliche Ebene ihrer Wirksamkeit ab (3).

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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