Anthroposophische Verfahren in der Behandlung von Dissoziation und Angst im Jugendalter

Ein Ansatz für eine multidisziplinäre Behandlung der Dissoziation im Rahmen der intergenerationellen Übertragung der posttraumatischen Belastungsstörung

Henriette Dekkers in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten des anthroposophischen "Therapeuticum Haarlem" in den Niederlanden

Letzte Aktualisierung: 21.05.2023

Einleitung

Die unverarbeitete intergenerationelle Weitergabe von Traumata erfolgt in der Regel auf einer unbewussten, nonverbalen Ebene von Generation zu Generation. In Ermangelung von Narrativen, die die durch das elterliche Trauma verursachten Verhaltensweisen beschreiben (1, 2), lösen die „Gespenster der Vergangenheit“ (3) unbewusste Ängste und dissoziative Zustände in den nachfolgenden Generationen sowie physiologische Anpassungen an den traumatischen Stress aus (4). Die Wiederherstellung der traumatisierten Bindungsbeziehung zwischen Elternteil und Kind ist die wirksamste Intervention, um die Heilung zu erleichtern und eine weitere intergenerationelle Traumaübertragung zu verhindern (5).

In diesem Beitrag wird ein diagnostisches und therapeutisches Verfahren zur Pathogenese und Behandlung von Dissoziation und Angst im Jugendalter im Kontext der intergenerationellen Übertragung der elterlichen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) vorgestellt. Die allgemeinen Prämissen zu diesem wichtigen Thema werden in einer einzelnen Fallstudie als praktische klinische Illustration konkretisiert.

Im Mittelpunkt des vorgestellten klinischen Beispiels steht das anhaltende angstauslösende elterliche Verhalten gegenüber einem jugendlichen Kind. Die Wahl der Therapie ist ein „familiensystemischer Ansatz“ für sowohl Elternteil, als auch jugendliches Kind. Alle therapeutischen Interventionen zielten darauf ab, die intergenerationelle Übertragung von PTBS durch die Wiederherstellung der traumatisierten Bindungsbeziehung zu unterbrechen. Vor der systemischen Therapie hatten die Eltern und das jugendliche Kind eine getrennte Traumabehandlung durch dieselbe Therapeutin erhalten. Der multidisziplinäre Ansatz schloss die anthroposophisch-medizinische Behandlung mit Bezug auf psychosomatische Störungen, die durch eine anhaltende Belastung der intergenerationellen Übertragung von Traumata verursacht werden, mit ein.  

Zwecke und Zielsetzungen

Prävention der intergenerationellen Übertragung von Traumata

Die Beurteilung der intergenerationellen Übertragung von belastenden Kindheitserlebnissen („adverse childhood experiences“, ACE) und PTBS (6, 7) sollte in Betracht gezogen werden, wenn vorangegangene Behandlungen von Angstsymptomen bei einem Kind keine Besserung der vorliegenden Beschwerden bewirkt haben. Dies ist auch dann der Fall, wenn ein Kind als Symptomträger einer innerfamiliären Dysfunktionalität auftritt, der so genannte „identifizierte Patient“ (8, 9) – darauf hat Rudolf Steiner bereits 1920 in seinem „Votum zur Psychiatrie“ (8) hingewiesen. Die Belastung durch dysfunktionale Erziehung und angstauslösendes elterliches Verhalten im Zusammenhang mit dem eigenen unbewältigten Trauma wirkt sich sowohl auf die psychische als auch auf die (psycho-)somatische Gesundheit des Kindes nachteilig aus (8). Die Kaiser-Studie über ACE (10) unterstreicht diese pathogenen Auswirkungen auf Körper, Seele, Geist und Lebensperspektiven (4).  

Durchführung von Interventionen im „Hier und Jetzt“ bei wechselseitigen Eltern-Kind-Ängsten, die sich zu Dissoziationen steigern

Extreme Angst erzeugt oft einen Zustand der Dissoziation, um das Unerträgliche auszuhalten. Dissoziative Zustände blockieren das Bewusstsein bei der Wahrnehmung, der Emotionsregulierung und bei bewussten Handlungen. Die Dissoziation hat ihre Wurzeln in der Existenzangst und ruft die Überlebensinstinkte des Lebens- oder Ätherleibs hervor, wodurch das Seelen- und Ich-Bewusstsein ausgeschaltet wird. Vehemente Überlebensmodi treten im Zustand der Dissoziation auf, zusammen mit einem Gefühl der Depersonalisierung oder „Selbst-Entfremdung“. Infolgedessen sind sie tendenziell für die Erinnerung und damit für therapeutische Interventionen unzugänglich. Unsere Erfahrungen mit PTBS-Symptomen und dissoziativen Zuständen haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sich im Klinischen der symbiotischen, eskalierenden dissoziativen Zustände zwischen Elternteil und Kind im Hier und Jetzt bewusst zu werden, um heilende Interventionen in der Behandlung zu schaffen. Aus psychotherapeutischer Sicht ist ein „haltgebender“ Zugang erforderlich, in der die Therapeutin/der Therapeut eine sichere therapeutische Beziehung schafft, die sowohl dem Opfer (dem Kind) als auch dem Täter (dem Elternteil, der selbst einmal Opfer war) Schutz, Wärme und Vertrauen bietet. Eine solche Beziehung ermöglicht es, das wechselseitige Traumawiedererleben und die Dissoziation im Erscheinungsmoment auszugleichen und zu deeskalieren, in dem diese in den Sitzungen auftreten. Beide Aspekte – sowohl das klinische Bewusstsein als auch der „haltgebende“ Zugang – müssen in der Wiederherstellung der Eltern-Kind-Beziehung implementiert werden, damit die gegenseitige Machtlosigkeit überwunden werden kann. Die vorgestellte Fallstudie ist ein Versuch, diese Annahmen zu vertiefen und die aktuellen Forschungsergebnisse und Erkenntnisse zum Thema durch anthroposophisch fundiertes Wissen zu erweitern.  

Dreifache Beurteilung und Anamnese

In der Psychotherapie erfordern unbewältigte belastende und traumatische Lebenserfahrungen eines Elternteils ein vorsichtiges Vorgehen wegen der Gefahr des Abbruchs der therapeutischen Beziehung durch den Ausstieg eines Elternteils und/oder des Kindes. Folglich wurden alle Symptome und Angstbewältigungsstrategien des Kindes und der Elternteile, sowie ihre Interaktionen in emotionsgeladenen Situationen in der Beurteilung und Diagnose untersucht. Eine genaue Anamnese des elterlichen Traumas war erforderlich, einschließlich seiner Wurzeln in der intergenerationellen Übertragung. Mit klinischem Bewusstsein wurden die Wechselseitigkeit und die synchronen eskalierenden dissoziativen Zustände beider Eltern und des Kindes sorgfältig erfasst.  

Allgemeiner Überblick über den Prozess der Beurteilung und der therapeutischen Interventionen  

1. Intergenerationelle Beurteilung und Verhinderung des Ausstiegs eines Elternteils

Es ist von äußerster Wichtigkeit, Misstrauen, Verdächtigungen und Anschuldigungen in den Gedanken und in der Seele der Eltern zu vermeiden, um zu verhindern, dass ein Elternteil aussteigt, oder noch schlimmer: dass das Risiko einer Verschlimmerung der häuslichen Gewalt sich erhöht. Aus diesem Grund muss eine umfassende Beurteilung der Personen sowie Dritter vorgenommen werden. Dabei sind nicht nur die Dimensionen der erlittenen PTBS, sondern auch die Schwere der erlittenen somatischen und psychosomatischen Entwicklungsfolgen zu berücksichtigen, wie dies in jedem multidisziplinären Rahmen, auch in einem anthroposophischen Therapeutikum, geschehen kann.  

2. Im vorliegenden Fall umfasste der Prozess folgende Schritte:

  • Die Probleme der Eltern und des jugendlichen Kindes wurden getrennt untersucht. Anschließend wurden ihre somatischen, psychosomatischen und psychologischen Symptome beurteilt. 
  • Die Ängste der PTBS jenes Elternteils, die den Gewaltexplosionen zugrunde liegen, wurden gründlich untersucht, einschließlich der Erforschung des Lebensverlaufs im Kontext der intergenerationellen Traumaübertragung. 
  • Schließlich wurden die Konstitutionen und Charakteristiken der Individualitäten beurteilt. 

    Insgesamt erwies sich diese umfassende Methode als wirksam, um die schädliche Kluft des „angstbesetzten Abgrunds“ zwischen Elternteil und jugendlichem Kind psychotherapeutisch zu überbrücken, denn beide schienen Symptome einer lang anhaltenden Beeinträchtigung durch „belastende Kindheitserfahrungen“ (ACE) zu tragen (10). Diese hatten sich in psychologischen Störungen im Denk-, Gedächtnis-, Gefühls- und Willensbereich (1), sowie physiologisch im endokrinen und im Immunsystem (4, 11, 12, 13) manifestiert. Beide Patienten schienen Symptomträger dysfunktionaler und traumatisierter Familien im Sinne der „Übertragungsfolge“ zu sein, die Rudolf Steiner (14) als pädagogisches Gesetz bezeichnet, das von der Ich-Störung (Großvater) über die Seelenstörung (Eltern) bis zur Funktionsstörung (heranwachsendes Kind) reicht. 

3. Therapeutische Erkenntnisse in dieser Fallstudie - die intergenerationelle Traumaübertragung

Bei der Jugendlichen handelte es sich offenbar um die vierte Generation in Folge, in der die PTBS intergenerationell übertragen wurde. Die Kriegserlebnisse während des Zweiten Weltkriegs hatten den Urgroßvater zerrüttet, dessen unausgesprochene und unbewältigte Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft seinen Geist und seine körperliche Gesundheit zerstörten. Instinktiv wurde seine ungelöste PTBS an die nächste Generation weitergegeben, wobei der Großvater in seiner Seele und seinem Vertrauen in das Leben zerbrach. Dieser Großvater der Jugendlichen entwickelte Feindseligkeit und Hass gegen jedes Zeichen von emotionaler Schwäche und Abhängigkeit. Dies hatte zur Folge, dass er sein eigenes Kind – in diesem Fall den Elternteil – von frühester Kindheit an seelisch und körperlich schikanierte. Die Geschichte hätte sich weiter wiederholt, wenn nicht einer von ihnen – das jugendliche Kind – auf allen Beziehungs-, emotionalen, somatischen und funktionalen Ebenen Schiffbruch erlitten hätte.    

4. Therapeutische Intervention: eine allgemeine Prämisse für die Umsetzung der Psychoedukation

 

Abb. 1: Mechanismus, durch den belastende Kindheitserfahrungen (ACE) die Gesundheit und das Wohlbefinden während der gesamten Lebensspanne beeinflussen. Bild: www.wavetrust.org

Es ist allgemein bekannt, dass elterliche Gewalt und Schikanierung von Kindern ein schwer zugänglicher Bereich für therapeutische systemische Interventionen ist, obwohl es moralisch, medizinisch und therapeutische klar ist, dass die Beendigung der Misshandlung und der Gewalt gegen Kinder ein Kernziel ist. In Anbetracht der Tatsache, dass Misshandlung häufig in einem dissoziativen Zustand der Selbstentfremdung stattfindet, schafft eine vorherige umfassende Psychoedukation eine solide psychotherapeutische Ausgangsbasis. 

5. Das Narrativ der transgenerationellen Übertragung in diesem klinischen Fall

Unser Ansatz begann mit der Psychoedukation über ACE auf der Grundlage der Ergebnisse der Kaiser-Studie (5). Wir beschrieben sowohl dem Elternteil als auch dem jugendlichen Kind in allgemeiner Form die schädlichen Einflüsse, die sich auf die seelische und somatische Gesundheit der Kinder auswirken. Indem wir von dieser allgemeinen Sichtweise auf ACE und die intergenerationelle Übertragung von Traumata ausgingen, konnten wir vermeiden, dass elterliche Abwehrmechanismen und Schuldgefühle entstehen. 

Trotz der potentiellen Grenzen der verbalen Verarbeitung bei der Darstellung und Abbildung traumatischer Erfahrungen ist das Vorliegen eines Lebensnarrativs wichtig für die Schaffung eines Realitätssinns und eines sinnvollen und authentischen Selbstbewusstseins (15). 

Wir verwiesen auf die Grundlagenforschung im Bereich der ACE (4) sowie auf die Schriften von Rudolf Steiner und Ita Wegman (8) über die schädlichen Auswirkungen einer anhaltenden Aktivierung des Symphatikus auf Kosten des para-sympathischen Teils des autonomen Nervensystems. 

6. Beurteilung von (psycho-)somatischen Symptomen und Konstitution

Wir führten zwei getrennte Untersuchungen, Beurteilungen und Diagnosen des Elternteils und des 16-jährigen Kindes durch, bevor wir einen systemischen Behandlungsansatz verfolgten. Fremdanamnestische Informationen wurden mit informierter Zustimmung beider Patienten eingeholt.

Das jugendliche Kind: dünn; mittlere Größe; blasse Haut; unausgewogene Körperhaltung. Vorhandene Symptome:

  • somatische Symptome (extreme Erschöpfung; chronisch aktiviertes Stresssystem; ein geschwächtes Immunsystem, das sich in wiederkehrenden Entzündungen und einer langsamen Heilung von Krankheiten wie Borreliose und Pfeifferschem Drüsenfieber äußert; Lebensmittelunverträglichkeiten; häufige Migräneanfälle; leichte Symptome einer Skoliose)
  • psychosomatische Probleme (chronische Verspannungen in der Brust und beim Atmen; Reizdarmsyndrom; allergische Reaktionen; geringe Eigenwärme; übermäßiges Schlafbedürfnis)
  • psychische Probleme (Angstzustände und ein hohes Maß an Selbstverteidigung); erhöhte Wachsamkeit; häufige Episoden der Dissoziation; Erschöpfung; Schulverweigerung; affektive Störungen, die zwischen Panik, Wut und Depression schwanken; Alpträume; Selbstverletzung; erhöhte Schreckreaktivität

Der Elternteil: stark, groß, muskulös, ‚abgenutzt‘, müde. Vorhandene Symptome:

  • somatische Symptome (Erschöpfung, Tachykardie, geschwächtes Immunsystem, das sich in wiederkehrenden Grippefällen äußert, langsame Genesung)
  • psychosomatische Symptome (Schlafstörungen, anhaltende erregte Stressgefühle, Schmerzen im unteren Rückenbereich)
  • psychische Probleme (Übererregung, die durch soziale Anpassung überdeckt wird; Angst zu versagen; übermäßiges Bedürfnis nach Kontrolle; ein hohes Maß an Selbstverteidigung; Aggressive Verstimmungen, Abtrennung von Erinnerungen, emotionale Abtrennung, Schikanen gegenüber seinen Kindern, Unruhe, Reizbarkeit, Grübeln und zwanghafte Gedanken, Workaholic).  

7. Erklärung der Gesetzmäßigkeiten der intergenerationellen Übertragung von PTBS zur Stärkung des Bewusstseins und der Resilienz

Es ist in diesem Fall wichtig durch die Beschreibung des therapeutischen Ansatzes und die Erläuterung der Ziele aufzuzeigen, inwiefern sowohl der Elternteil als auch das jugendliche Kind ohnmächtig und gefangen waren in ihrem Überlebensmodus und gemeinsamen Leiden. Wir konnten erklären:

  • dass ein Elternteil in einem dissoziativen Zustand dazu neigt, seine eigene erlittene Kindheitstraumatisierung zu wiederholen (2);
  • dass das elterliche Verständnis der schädlichen Auswirkungen seiner bzw. ihrer Erziehung eine Voraussetzung wäre;
  • dass die Notwendigkeit, die gegenseitige Verstrickung zu beenden, angesichts der sich verschlimmernden gesundheitsschädlichen Zustände des jugendlichen Kindes in psychologischer, somatischer und psychosomatischer Hinsicht dringend geboten ist;
  • dass die intergenerationelle Weitergabe von Traumata durch das Verstehen und die Transformation von destruktiven Mustern und Dissoziationen beendet und neue Kompetenzen erworben werden müssen.  

8. Therapeutische Interventionen: Behandlung der Wahl

Die Symptome der Jugendlichen wie tiefe Angst, Verzweiflung und ein sich verschlimmernder Entwicklungseinbruch beherrschten das Bild, das durch das Verleugnen und die scheinbare Amnesie des Elternteils in Bezug auf jegliche Gewalttaten noch verschärft wurde. Folglich war die Behandlungspriorität der Wahl der systemische Ansatz, um die wechselseitige Dissoziation, Amnesie und Retraumatisierung ins Bewusstsein zu bringen. Die Voraussetzung, Vertrauen zu gewinnen und die emotionale Sicherheit für beide Patienten zu gewährleisten, wurde bereits durch die umfassende Anamnese geschaffen. Sowohl der Elternteil als auch das jugendliche Kind wurden ernst genommen und fühlten sich in ihren existenziellen Ängsten, Anfällen und Bedrohungsgefühlen gut verstanden. Dies erschien als Grundlage für ein allmähliches Lösen der Erstarrung und der Dissoziation während der Therapie, insbesondere wenn Ängste und Misstrauen auftauchten.  

9. Generelle Grundlagen zur Dissoziation und zu therapeutischen Interventionen, die sich auf die Verwicklung von interaktiven Dissoziationen und Retraumatisierung beziehen

Dissoziative Zustände beeinträchtigen die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis zutiefst. In einem dissoziativen Zustand ist der Patient depersonalisiert und unfähig, die Realität wahrzunehmen, beeinträchtigt, Gefühle zu empfinden sowie zu urteilen, geschweige denn, sich an das zu erinnern, was er getan hat und was geschehen ist – sowohl zu Hause, als auch in der Therapie. Aus anthroposophischer Sicht werden in dissoziativen Zuständen die Seele und das Ich bzw. anthroposophisch: die seelisch-physiologische Leiblichkeit und die Ich-Organisation aus ihrem normalen physiologischen Zusammenhalt herausgedrängt. Sie werden in ihrer Funktion zurückgedrängt, während ein existenzieller, aber unbewusster „Überlebenswille“ wirksam wird. Diese Art von Überlebens-Explosionen – oder Implosionen – müssen dem Lebens- oder Ätherleib zugeschrieben werden, der ausbricht und das menschliche Bewusstsein mit „vulkanischer Gewalt“ überwältigt, unerreichbar für vernünftige oder emotionale Interventionen – sei es von Therapeuten, sei es von Partnern oder Kindern. Wie Peter Fonagy mahnt: „Sich nicht gegen die Gewalt des Patienten richten! Aggression dient als Überlebensmodus inmitten eines plötzlichen abgrundtiefen Zusammenbruchs des Selbst“ (16). Die akademische Forschung auf diesem Gebiet, die diese Dynamik deutlich macht, nimmt zu.  

Dissoziative Zustände lassen sich allgemein in verschiedene Zustände und Verhaltensweisen einteilen:

  1. Sprachloser Terror und vagaler Zusammenbruch: Dissoziation von physiologischen Überlebensfunktionen (17).
  2. Retraumatisierung, intrusive Erinnerungen und bodenlose Existenzangst: Dissoziation des Bewusstseins.

Während der Sitzungen eskaliert häufig die Kommunikation zwischen Elternteil und dem Jugendlichen und verfallen in Dissoziationszustände sowohl des Typs 1), als auch des Typs 2).  

Interventionen zur Behandlung der Dissoziation. Erwecken der vier leibbezogenen sensorischen Systeme
Während der Sitzungen „allert und awere“ der wechselseitigen Ängste zwischen dem Elternteil und Kind, bis hin zur Dissoziation und ihrer verschiedenen physiologischen Phänomen bewusst zu sein, war es ein zentraler Punkt der therapeutischen Arbeit. Die Unterscheidung zwischen „sprachlosem Terror“ und „Retraumatisierung“ während der reziproken Dissoziation war von größter Bedeutung. Diese Feststellung des Unterschieds der dissoziativen Interaktionen, in welchen Elternteil und Jugendliche verfallen, öffnete neue Türen für Interventionen. Bei manchen Gelegenheiten brach der Vater in Wut und Schikane aus, wobei er unbewusst seine eigene Traumatisierung wiederholte, während das Mädchen den abwesenden Blick des sprachlosen Terrors zeigte.

Auf der Stelle wurde von mir hierbei der Dialog unterbrochen, machten wir eine Pause und es gab etwas zu trinken, was die Überwindung der Dissoziation durch die Reaktivierung des Flüssigkeitskreislaufs (die vitalisierende Ebene) und die Wiederaufnahme der tieferen Atmung (die Seelenebene) erleichterte (18). Die therapeutisch unverzichtbare Haltung des „Haltgebens und kongruenten Einfühlens in umfassendem Mitgefühl“ gegenüber solchen retraumatisierenden Zuständen des Elternteils oder des Kindes ermöglichte solche Interventionen.  

Die sieben Schritte zur Entdissoziierung wurden während der Sitzungen vom Vater und der Jugendlichen wiederholt durchgeführt und erprobt:

  1. Erwecken des Bewusstseins im Hier und Jetzt: Den Zustand der Dissoziation erkennen und zu einer aktuellen Präsenz im Raum erwachen.
  2. Erwecken des physischen Körpers im Hier und Jetzt: Wahrnehmung des eigenen physischen Körpers durch Aktivierung des Tastsinns.
  3. Wiederbelebung; den Stress abbauen: Das Trinken von Flüssigkeit (Tee, Wasser) vertieft die Atmung und aktiviert so den Lebenssinn.
  4. Lösen der Erstarrung und Freisetzen der richtigen Führung in der Bewegung: Aufstehen und umhergehen, um den Bewegungssinn und damit den Blutkreislauf anzuregen.
  5. Wiedererlangung des Gleichgewichts: Einnehmen einer stehenden Position, den ganzen Raum aus einem Blickpunkt wahrnehmen, Wiederherstellung eines Gleichgewichts. 
  6. Wiedererlangung der Führung in der eigenen Seele: Lautes Sprechen einiger einfacher Vokalisierungen, um die entfremdete Seele zu befreien und die Vokalisierung der Seele zu aktivieren.
  7. Neuanpassung des eigenen Selbst: Zurückkehren zum vorherigen Ausgangspunkt, Versuch „Ich bin hier“ wahrzunehmen.

Nach der Pause wurden sowohl der Elternteil, als auch die Jugendliche vorsichtig, aber phänomenologisch in Bewegung gesetzt, um den dissoziativen oder retraumatisierenden Prozess, in den sie interaktiv verfallen waren, erneut zu betrachten. Diese gegenseitigen antidissoziativen Interventionen schienen eine heilende Wirkung zu haben und förderten die gegenseitige Anerkennung und das Verständnis.  

10. Anthroposophische Arzneimittel (19

Da sowohl der Elternteil als auch das jugendliche Kind schulmedizinische Medikamente ablehnten, erschien es sinnvoll und wirksam, ihnen anthroposophische Arzneimittel zu verabreichen. Der Vater wurde mit Aurum / Lavandula comp. Creme WELEDA eingesalbt, um seine angstgetriebenen Explosionen zu beruhigen; er erhielt auch Aurum / Apis regina comp. WALA  subkutan zur Unterstützung seiner Erschöpfung. Die Jugendliche erhielt Kalium Aceticum comp. D6 trit. WELEDA , um die Ich-Organisation in die anabolen Prozesse des Stoffwechselsystems einzubinden und das parasympathische Nervensystem zu stimulieren; sie erhielt Aurum / Stibium / Hyoscyamus Globuli WALA , um ihre angstgetriebenen, lähmenden Dissoziationen zu lösen; zuletzt hatte sie Einreibungen mit Aurum / Rosae / Lavandula Öl DR. HEBERER als eine erste Geste zur Wiederherstellung des Lebensvertrauens durch den Tastsinn.  

11. Psychotherapeutische Ergebnisse: Unterbrechung der Kette der intergenerationellen Übertragung von PTBS

Die „Puddingprobe“ fand in der häuslichen Situation statt. In einem Ausbruch von ungezügelter Gewalttätigkeit gegenüber zwei jüngeren Geschwistern trat die Jugendliche in die qualvolle Szene ein und nahm den Vater in die Arme, flüsterte ihm ins Ohr, um ihn vor den Augen der terrorisierten Geschwister nicht zu beschämen: „Fühlst du dich nicht wohl, Papa? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?“ In diesem Moment brach der Zustand der Dissoziation des Elternteils zusammen, und er schluchzte in ihren Armen und spürte ihre wahre Fürsorge und Liebe. „Wie kannst du mich lieben, wenn ich so bin?“, konnte er schließlich hervorbringen. Durch dieses Haltgeben und Trösten wiederholte sie, was sie in der Therapie immer wieder erlebt hatte: das haltgebende Verständnis und Mitgefühl mit dem Vater wie auch mit ihr selbst durch den Psychotherapeuten.
Die Tür war geöffnet worden, um die Kette der intergenerationellen Übertragung von PTBS zu stoppen.  

 

Abb. 2: Pathologie der vier körperorientierten Sinnesqualitäten von Berührung, Leben, Bewegung und Gleichgewicht. Entdissoziierung als Vermittler von Verkörperung. Bild: Henriette Dekkers 

Literaturverzeichnis

  1. Van der Kolk BA. The complexity of adaption to trauma. In Van der Kolk BA, McFarlane AC, Weisaeth L. Traumatic stress: the effects of overwhelming experience on mind, body and society. New York: Guilford Press; 2006.
  2. Van der Kolk BA. The body keeps the score: mind, brain and body in the transformation of trauma. Kap. 4: The anatomy of survival. New York: Viking Penguin; 2015.
  3. Fraiberg S, Adelson E, Shapiro V. Ghosts in the nursery: a psychoanalytic approach to the problems of impaired infant–mother relationships. Journal of the American Academy of Child Psychiatry 1975;14(3):387–421. DOI: https://doi.org/10.1016/S0002-7138(09)61442-4.[Crossref]
  4. Danese A, McEwen B. Adverse childhood experiences, allostasis, allostatic load, and age-related disease. Psychology & Behavior 2012;106(1):29-39. DOI: https://doi.org/10.1016/j.physbeh.2011.08.019.[Crossref]
  5. Isobel S et al. Mental Health Research Sydney Australia. Journal of Clinical Nursing 2018;14735.
  6. Apter T. The insidious legacies of trauma. Website-Beitrag vom 11. Mai 2020. Abrufbar unter https://www.psychologytoday.com/us/blog/domestic-intelligence/202005/the-insidious-legacies-trauma (04.07.2022).
  7. Meaney MJ. Maternal care, gene expression, and the transmission of individual differences in stress reactivity across generations. Annual Review Neuroscience 2001, 24: 1161-1192.
  8. Steiner R. Zur Psychiatrie. Votum, Dornach, 26. März 1920. In: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989, S. 262-270.  
  9. Steiner R. Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919 bis 1924, GA 300c, 50 / 51, and 133 / 134.
  10. Die bahnbrechende Kaiser-ACE-Studie aus den Jahren 1995-1997 mit 17.000 Probanden über belastende Kindheitserlebnisse, die von den Centers for Social Disease Control and Prevention (CDC) durchgeführt wurde, und die ‚Kaiser Permanente‘ über die Beziehungen zwischen ACE und psychischer und physischer Gesundheit im Leben. Siehe auch https://nhttac.acf.hhs.gov/soar/eguide/stop/adverse_childhood_experiences (04.07.2022).
  11. McEwen BS. Redefining neuroendocrinology: Epigenetics of brain-body communication over the life course. Frontiers in Neuroendocrinology 2018;49:8-30. DOI: https://doi.org/10.1016/j.yfrne.2017.11.001.
  12. Steiner R.  Die Erkenntnis des Menschenwesens nach Leib, Seele und Geist. Vortrag vom 2. August 1922. 3. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag 1995. „Sobald wir dazu kommen, einmal das zu wissen, daß das Gehirn sich ausbildet unter den äußeren Einflüssen, dann werden wir erst einen Begriff bekommen, wie stark diese äußeren Einflüsse sind. Diese äußeren Einflüsse sind natürlich dann ungeheuer stark, wenn wir wissen, daß durch die äußeren Einflüsse alles dasjenige bewirkt wird, was da im Gehirn eigentlich vor sich geht.“
  13. Steiner R, Wegman I. Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Kap. Blut und Nerv. 7. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991, S. 40-44. 
  14. Steiner R. Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293. 10. Aufl. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2019.
  15. Connolly A. Healing the wounds of our fathers: intergenerational trauma, memory, symbolization and narrative. Journal of Analytical Psychology 2011 Nov;56(5):607-26. DOI: https://doi.org/10.1111/j.1468-5922.2011.01936.x.[Crossref]
  16. Bateman A. Fonagy P. Mentalization-Based Treatment. Psychoanalytic Inquiry 2013;33(6):595-613. DOI: https://doi.org/10.1080/07351690.2013.835170.[Crossref]
  17. Im Zustand des sprachlosen Terrors „[...] zeigt das Nervensystem ein entgegengesetztes Phänomen. Im para-sympathischen Nervensystem, das die Verdauungsorgane durchdringt, steht der Ätherleib an erster Stelle. Die Nervenorgane, um die es hier geht, sind in erster Linie lebenserzeugende Organe. Die Astral- und Ich-Organisationen organisieren sie nicht von innen, sondern von außen. Aus diesem Grund ist der Einfluss der Astral- und Ich-Organisationen, die auf diese Nervenorgane einwirken, stark (= Aktivierung des Sympathikus). Leidenschaften und Emotionen haben eine tiefe und dauerhafte Wirkung auf das para-sympathische Nervensystem. Kummer und Angst werden es allmählich zerstören.“
  18. Schmall C. Neurologische Korrelate von Dissoziation. Unveröffentlichter Vortrag 2.7.2010. Berlin: 1st International Congress on Borderline Personality Disorder; 2010.
  19. Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland/GAÄD, Medizinische Sektion am Goetheanum (Hrsg.): Vademecum Anthroposophische Arzneimittel. 4. Aufl. München: GAÄD; 2017.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin