Wenn alles ganz anders wird

Interviews mit Eltern behinderter Kinder

Christoph Stolzenburg

Letzte Aktualisierung: 28.05.2021

Liebe Eltern!  

Jedes Kind, das sich mit einer Schwangerschaft ankündigt, bringt Neues, Einmaliges, nie Dagewesenes auf die Welt. Dass es sich aus einer anderen, geheimnisvollen, Welt nicht zufällig zu seinen Eltern begibt, ahnen durchaus viele junge Mütter und Väter. Wenn die Geburt überstanden ist, wird das Kind oft als Wunder empfunden. Nicht nur deshalb, weil es physisch da ist, sondern weil nun eine Persönlichkeit, ein Ich, die Welt bereichert – gleich, ob das Kind gesund oder behindert ist. In dieser besonderen Stimmung der ersten Tage können Eltern mehr oder weniger bewusst Fragen an ihr Neugeborenes haben, die sonst nur in außergewöhnlichen Situationen gestellt werden: Wer bist du? Was haben wir miteinander zu tun? Woher kommst du? Wohin geht dein Weg?

Bildnachweis: DenisKuvaev/Shutterstock.com

Die Schwangerschaftsvorsorgen (mit ihren Sonografien), die Geburtsvorbereitungen und später die Kindervorsorge-Untersuchungen können leicht den Blick von diesen Fragen ablenken. Doch die Sorge um die gesunde leibliche, seelische und geistige Entwicklung steht in Zusammenhang mit diesen. Wenn nun Eltern erfahren, dass ihr Kind behindert ist, sei es in der Schwangerschaft, nach der Geburt oder noch später, wird vieles anders. Sie geraten oft oder zeitweise in unterschiedlich grosse Krisen mit unterschiedlicher Intensität. Diese Krisenzeiten bedeuten sehr viel! Denn sie regen eine Entwicklung an, welche andere Eltern in dieser Art nicht erfahren. 

Angst

Wenn die Mutter oder die Eltern merken, dass "etwas nicht stimmt", besonders in der Schwangerschaft, wird die freudige Erwartung von Angst durchsetzt. Das kann von Verunsicherung bis hin zu lähmender Angst reichen. Gleichzeitig keimt auch Hoffnung auf, dass es vielleicht ganz anders kommen wird. Mit dieser Angst haben es die Frauenärztinnen und Frauenärzte zu tun: Ihr Blick, ihre Worte, ihre Sicherheit können die elterliche Angst abschwächen oder zumindest Zuversicht vermitteln! 
Eine besondere Hilfe in dieser Phase der großen Verunsicherung gewähren meist die Hebammen. Oft sind sie die besten Seelsorgerinnen für die betroffenen Mütter. Selten gibt es Mütter, die nach dem ersten Schock die Angst gar nicht erst aufkommen lassen wollen. Sie „glauben“ an ihr Kind, wie auch immer es ist. (Manche Mütter sind am ersten Tag nach der Geburt so mit ihrem Kind verbunden, dass sie beispielsweise eine Lippen-Kieferspalte übersehen, solange man sie nicht darauf aufmerksam macht.)  

Trauer

Irgendwann ist die Diagnose einer Behinderung sicher. Alle Hoffnung, dass es anders kommen wird, ist weg. Eine Diagnosestellung kann schon in der Schwangerschaft der Fall sein, zum Beispiel bei genetischen Veränderungen, oder durch schrittweise Ausprägung nach einer Geburtsschädigung oder in der späteren Entwicklung des Kindes. Trauer, Resignation und Einsamkeit angesichts des Unabänderlichen können die Eltern erleben. Auch das Gespräch zwischen den Eltern droht in diesen Situationen manchmal zu erstarren. Es kommt auch vor, dass die Eltern sich (und das Kind) verstecken. 
Genetische Erkrankungen, die in der Schwangerschaft diagnostiziert werden, führen die Eltern oft in eine genetische Beratungsstelle – am häufigsten bei Morbus Down (Trisomie 21). Dort werden die möglichen Entwicklungsaussichten und Komplikationen in statistischen Wahrscheinlichkeiten vorgestellt. Das macht viele Eltern ratlos. Wäre es nicht viel hilfreicher, wenn auch Eltern von Kindern mit Morbus Down anwesend wären und von ihren Erfahrungen berichten würden? Vermutlich würde die hohe Abtreibungsrate von derzeit etwa 90 % deutlich absinken – nicht nur in Deutschland. 
Gerade das Gespräch ist in dieser Situation wichtig, auch mit der Kinderärztin bzw. dem Kinderarzt: Ihre Erfahrung, ihr Verständnis, ihre Geduld können Mut machen! 

Widerstand

Vor oder nach der Geburt eines behinderten Kindes, noch bevor sich ein wirkliches Vertrautsein entwickelt hat, klopft häufig das „Ego“ bei den Eltern mit Abwehr, Aufbegehren und Wut an. „Warum trifft es mich? Uns? Wer ist schuldig?“ Man kann sich selbst bezichtigen oder andere wie den Arzt, der ein gefährliches Mittel verschrieb, die Geburtshelfer, die einen Fehler machten, ... oder man hadert mit Gott. Manche Mütter wünschen, ihr Kind wäre tot geboren. Wir sollten verstehen, dass solche Gefühle als Schritte in der Entwicklung der Eltern dazugehören dürfen! In diesem Stadium wird das Kind in seiner Eigenheit noch nicht recht gesehen. Im Vordergrund stehen häufig Empfindungen von Enttäuschung: Das erhoffte persönliche und familiäre Glück wird bedroht, ebenso wie die berufliche Karriere, Urlaubspläne, Freundschaftsbesuche oder es werden Hoffnungen bedroht, wie sich das eigene Kind später im Fußballklub, beim Musizieren oder sonst wo zeigen würde. 
Es braucht Zeit, sich dem Kind in seiner Eigenheit zu öffnen. 
Doch sind gerade die ersten Wochen oft mit Untersuchungen, Kontrollen und ersten Therapien ausgefüllt. Antje Thiessen, eine auf die Begleitung betroffener eltern spezialisierte Berliner Hebamme, empfiehlt: In den ersten acht Wochen sollten nur die dringendsten Termine wahrgenommen werden. Denn wichtiger ist die Entwicklung einer ungestörten tiefen Mutter-Kind-Bindung. Durch diese Bindung wird es leichter, sich auf die veränderte Lebenslage einzulassen. 

Anpassung

Das Leben geht weiter! Das Kind fordert seine Rechte! Oft gibt es größere Probleme beim Stillen oder Füttern, das Kind hat eventuell Schlafstörungen, häufige Schreiphasen, vielleicht Krampfanfälle u. a. Hinzu kommen außerhäusige Termine wie ärztliche Kontrollen, Krankenhausaufenthalte, Physiotherapie. Die ersten ein bis zwei Jahre sind vielfach eine sehr große Belastung für alle – einerseits. Andererseits lernen sich Mutter und Kind, Vater und Kind und die Eltern untereinander selbst immer tiefer kennen! Es gibt die ruhigen Momente, wo das Kind, vielleicht erst mit sechs Monaten, zum ersten Mal lächelt oder nach etwas greift oder die ersten Silben lallt. Welch eine Freude bedeutet der kleinste Fortschritt! Oft empfinden die Eltern, wie ihr Kind auf einer Art mühevoller Wanderung ist, doch dabei immer neue Ziele erreicht. 
Auch die Kinderärzte können sehr dazu beitragen, dass das Kind besser wahrgenommen wird: Wenn sie auf eingreifende "zwingende" Arzneimittel - z. B. Fiebersenker, Antibiotika - wo möglich verzichten, die Eigenkräfte des sich entwickelnden Organismus durch homöopathische und anthroposophische Arzneimittel stärken und die Eltern zur Unterstützung anleiten - z. B. bei Wickeln, Auflagen und der Ernährung.

Annahme

Irgendwann tritt mehr Ruhe ins Leben ein. Das Kind ist ganz angekommen – das Gefühl in der Familie ist: Du gehörst voll zu uns – so wie du bist! Wenn auch Ängste, Trauer, Wut usw. immer mal Begleiter sein können, die liebevolle Annahme tritt in den Vordergrund. Jetzt trauen sich die Eltern auch selbstverständlich, ohne Hemmnisse, mit ihrem Kind in die Öffentlichkeit zu gehen. Auch wenn es nicht allen gelingt, das Kind fraglos anzunehmen und es bedingungslos zu lieben, vollziehen die meisten Eltern einen bedeutsamen Entwicklungsschritt – einen Friedensschluss mit dem Schicksal. Nicht wenige äußern: „Wir glauben, dass unser Kind sich uns als Eltern ausgesucht hat. Weil wir zusammenpassen und nicht alle Eltern diese Situation so meistern könnten!“ Dieser Gedanke setzt eigentlich eine vorgeburtliche geistige Wirklichkeit voraus. So wurden die Eltern von uns gefragt, ob sie sich im Zusammenleben mit ihrem Kind auch mit Reinkarnation und Schicksal befasst haben. Dadurch könnte man sich nochmals anders auf die Suche nach dem Sinn von „Schicksalsschlägen“ begeben. Könnte es tröstlich sein, den ewigen Kern im Kinde als eine viele Leben umspannende Individualität zu sehen und mit Aufgaben für die Zukunft?   

Engagement

Es braucht unsere Annahme des behinderten Kindes, um einen freieren Blick auf seine Chancen zu bekommen. Das behinderte Kind soll und will am Leben aller teilnehmen, dabei sein, dazu gehören. Das ist der Grundgedanke der Inklusion, die sich zahlreiche Länder in der Verabschiedung der UNO-Behindertenrechtskonvention 2006 als Ziel gesetzt haben. Inklusion heißt Gleichheit aller Menschen in ihrer Teilhabe am Leben. Früher wurde nur die Integration angestrebt. Sie bedeutete, dass sich behinderte Kinder den „normalen“ Kindern schulisch oder in anderen Lebensbereichen möglichst annähern sollten. Inklusion ist mehr: Sie will die volle Würdigung und Teilnahme am Leben als Mensch trotz vielfältiger motorischer, sprachlicher und/oder kognitiver Einschränkungen – ein Ideal! Viele Eltern werden in Selbsthilfegruppen aktiv oder beteiligen sich ehrenamtlich in entsprechenden Organisationen. Beispielsweise gibt es Vereine insbesondere für Väter behinderter Kinder, weil diese sich häufiger nicht ernst genommen fühlten, wenn sie beispielsweise ihr behindertes Kind in eine Klinik begleiteten. (So hörte ein Vater den Satz: „Ich schreibe Ihnen das für Ihre Frau auf. Ihre Frau kann uns bei Fragen anrufen.“ usw.)  

Vertrauen

Manchmal wird diese Entwicklungsstufe schon nach kurzer Zeit, meist aber erst viel später erreicht oder auch gar nicht: die Stufe des Vertrauens, der Gelassenheit, dass alles so richtig ist, wie es mit dem Kind gekommen ist. Manchen Eltern gelingt es nach Jahren zu sagen: „Es ist das Beste, so wie es ist!“ Und nicht nur: “Wir haben das Beste daraus gemacht.“ Es gibt dann keine Angst mehr vor der Zukunft. Und es gelingt dann auch, das Kind, insbesondere wenn es älter ist, vertrauensvoll in eine angemessene Einrichtung zu geben. (Was manchen Müttern schwerfällt, weil sie sehr an ihrem Kind hängen.) So ergeben sich für die Eltern – und ganz besonders für die Mütter – wieder Lebensräume, in denen eigene, vergessene, zurückgestellte oder neue Lebensimpulse gepflegt werden können. Unabhängig von ihrem behinderten Kind. Wenn Eltern dieses Vertrauen erreicht haben, ist eine große Entwicklung durchgemacht worden. Ohne behinderte Kinder wäre es nicht dazu gekommen, davon zeugen unsere Interviews. Hier geht es zum Fragebogen.  

Fragen im Elterninterview 

In den Interviews mit Eltern behinderter Kinder sollte zum Ausdruck kommen, wie sie ihre Lebenssituation erleben und erlebten. Wir möchten damit Ihnen, Müttern und Vätern, die in eine ähnliche Situation kommen können, eine Hilfestellung zu geben. 

  • Wir fragen zum Beispiel nach der derzeitigen Situation des Kindes in der Familie, nach seiner Diagnose.
  • Wir fragen nach dem Verlauf der Schwangerschaft: War da schon die Behinderung bekannt? Wie wurde damit umgegangen? 
  • Wir fragen nach den Umständen der Geburt, nach der ersten Beziehung zum Kind, nach der Rolle des Vaters. 
  • Und wir fragen nach den ersten Jahren: Zeiten im Krankenhaus, bei Ärzten und Therapeuten nach dem Leben zuhause. Ändert sich die Beziehung der Eltern, evtl. der Geschwister? Gibt es Probleme mit Behörden, Krankenkassen usw. Wie ist die gesellschaftliche Akzeptanz?
  • Welche Erfahrungen wurden in Kindergarten und Schule gemacht?
  • Und im Rückblick: Vom Glück des Kindes? Vom Glück mit dem Kind? Erfahren sich Eltern als Lernende? Auf der Suche nach einem tieferen Sinn?
     

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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