Die Begleitung des unruhigen Patienten aus der Sicht des Seelsorgers

Renato Gomes

Letzte Aktualisierung: 14.06.2023

Die Ruhe ist einer der bedeutungsvollen Fundamente, auf dem sowohl das religiöse als auch das meditative bzw. spirituelle Innenleben ruht. Bevor man zu meditieren oder zu beten beginnt – so wissen es religiöse und spirituelle Lehrer seit Jahrtausenden –, müssen wir uns zunächst innerlich besinnen und konzentrieren, um vom alltäglichen Geschehen Abstand zu nehmen, Kraft zu sammeln und eine ruhige, stille Stimmung in sich zu erzeugen. Sodann können wir uns dem Inhalt eines Gebetes oder einer Meditation widmen (1). Je mehr diese ruhige Stimmung entsteht, umso besser gelingt es, in die betende oder meditative Tätigkeit zu kommen.

In der Gegenwart haben sich unterschiedliche meditative Techniken entwickelt, die oftmals in der buddhistischen Tradition wurzeln. Als "Mindfulness" (Achtsamkeit) schließen sie nicht unmittelbar an eine spezifische religiöse Praxis an. Vielmehr werden sie als Übung zur Kontrolle von Stress und Erschöpfung angewendet (2). Menschen, die für längere Zeit regelmäßig diese Übungen praktizieren, erreichen häufiger einen gewissen Grad von Selbstkontrolle über ihre Emotionen oder mehr Gelassenheit im Umgang mit stressbelasteten oder angespannten Lebenssituationen. Eine wachsende Anzahl wissenschaftlicher Studien dokumentiert physiologische und seelische Wirksamkeit von Achtsamkeit und Meditation.

In der Palliativmedizin ist die Unruhe ein häufiges und therapeutisch herausforderndes Beschwerdebild. Nach Abklärung ihrer Ursache kommen inneren Hilfestellungen wie Meditation und Gebet eine besondere Bedeutung zu (3).

Seelsorge beim unruhigen Patienten

Angstzustände und Unruhe – auch unmittelbar an der Schwelle zum Tod – überwältigen oftmals den Sterbenden. Nicht immer werden solche Zustände von den Betroffenen bewusst und klar ausgedrückt. Die körperlichen Faktoren, die zur Unruhe beitragen, müssen ebenso wie die seelischen Ursachen so gut wie möglich erkannt und behandelt werden.

Wenn Seelsorgerinnen oder Seelsorger – Pfarrer, Diakon oder Spiritual Care – an das Krankenbett gerufen werden, um Menschen auf der Palliativstation oder auch zu Hause zu begleiten, stellen sich Fragen: War die/der Betreffende ein religiös orientierter oder auch meditierender Mensch und hat Übungen und Erfahrung in spiritueller Praxis? Als seelsorglicher Begleiter versuchen wir beispielsweise an bedeutsame Erfahrungen anzuschließen, die das Leben mit sich brachte und die sich in der Biographie als positiv wahrgenommen wurden. So kann das Thema des Leidens und des Sterbens im vertraulichen Gespräch thematisiert und bearbeitet werden.

Wir können uns aber auch ganz neu auf die Qualität von Ruhe besinnen. Dabei ist es wichtig, sich nicht selbst von der Unruhe des Patienten “anstecken” zu lassen. Erst aus der eigenen Ruhe heraus entwickelt sich die Möglichkeit, dem Patienten zu helfen. Ein ruhiges, auch leises Sprechen, kann hilfreich sein. Der Patient sucht in diesen Gesprächen keine Ablenkung, sondern neue Perspektiven und spürt das Mitgefühl und den Willen der helfenden Begleitung.

Die folgende, aus der Anthroposophie stammende Meditation ist oftmals eine wesentliche Hilfe für die Entwicklung innerer Ruhe:

Ich trage Ruhe in mir,
Ich trage in mir selbst
Die Kräfte, die mich stärken.
Ich will mich erfüllen
Mit dieser Kräfte Wärme,
Ich will mich durchdringen
Mit meines Willens Macht.
Und fühlen will ich
Wie Ruhe sich ergießt
Durch all mein Sein,
Wenn ich mich stärke,
Die Ruhe als Kraft
In mir zu finden
Durch meines Strebens Macht. (4)

Wenn Gespräche mit unruhigen Patienten geführt werden können, lohnt sich der Versuch, gemeinsam das Problem oder die Sorge in das Bewusstsein zu nehmen. Dadurch können sie erfahren, dass die eigenen Kräfte bis zu einem gewissen Grad ausreichen, dem Problem oder der Sorge standhalten zu können. Dabei ist es unausweichlich, dass der seelsorgliche Begleiter selbst überzeugt ist: Du schaffst es! In dir schlummern Kräfte, die es ermöglichen, mit diesem Problem, dieser Sorge oder Angst umgehen zu können.

Vertrauen zwischen Patienten und seelsorgerlichen Begleitern entsteht nicht von selbst. Es bedarf Zeit, oftmals mehrere Besuche, um dieses aufzubauen. Wenn es dann gelingt, durch Gespräche, Interesse und Zuwendung Vertrauen entstehen zu lassen, kann in Augenblicken der Unruhe auf diese Brücke zurückgegriffen werden. Vertrauensbrücken können unabhängig von der religiösen Überzeugung bzw. des meditativen Innenlebens aufgebaut werden. Hier spielt die „Kunst“ des seelsorglichen Begleiters im Umgang mit Menschen eine große Rolle.

Ein weiterer Aspekt im Umgang mit dem unruhigen Patienten ist die Berücksichtigung seines Umkreises und der Zu- und Angehörigen. Belastende oder gelingende menschliche Beziehungen können zur Verschlimmerung oder Verbesserung der Unruhe beitragen. Es ist wichtig, die Gespräche über das Leiden und über die Ängste der Patientin, des Patienten auch mit den Angehörigen zu führen, das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt. Hier ergibt sich ein weites Arbeitsfeld für unsere seelsorgerliche Begleitung. Wenn Angehörige nach Sprüchen fragen, mit denen sie dem Patienten ihre positiven Gedanken und Beistand zuleiten können, so eignet sich die folgende gebetsartige Meditation:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Erdenmenschen,
Daß, mit Eurer Macht geeint
Unsre Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht. (5)

Diese Meditation kann auch in der Einzahl gesprochen werden und sich damit an einen einzelnen erkrankten Angehörigen richten.

Literaturverzeichnis

  1. Siehe z. B. die Publikation des amerikanischen Mönches Trappist William Austin Meninger. The Loving Search For God: Contemplative prayer and The Cloud of Unknowing. New York: The Continuum International Publishing Group Inc.; 1994.
  2. Siehe z. B. Kabat-Zinn J. Full Catastrophe Living (Revised Edition): Using the Wisdom of Your Body and Mind to Face Stress, Pain, and Illness. New York: Bantam Books Trade Paperbacks; 2013.
  3. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. Langversion 2.2.2020. AWMF-Registernummer: 128/001OL. Verfügbar unter: https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin. (12.06.2023).
  4. Steiner R. Mantrische Sprüche. Seelenübungen II. GA 268. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1999, S. 179.
  5. Steiner R. Das Geheimnis des Todes. GA 159. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1980, S. 30.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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