Das Aktivitäts-basierte Stress-Reduktions-Programm (ABSR)

Hintergründe und Phänomene der Stressreaktion und ein Ausgleich mit Übungen

Harald Haas

Letzte Aktualisierung: 14.03.2022

Traumatische Stressreaktion: Ablauf der Traumareaktion, Komorbiditäten der Posttraumatischen Belastungsstörung

Betrachten wir die innere und äußere, subjektive und objektive Symptomatik, die beim Trauma – einer unfassbaren oder lebensbedrohenden Schrecksituation – auftritt, so findet zunächst ein Freezing, ein Erstarren und Erkälten (kreislaufmäßig eine Zentralisation) statt. Diese Reaktion geht bewusstseinsmäßig mit der Dissoziation oder Verwirrung bzw. Ohnmacht (in Todesangst) einher, nichts tun zu können. Eine Überwindung dieses Zustandes ist nur möglich, wenn ein Impuls von Hass und Ärger oder ein „Fluchtimpuls“ auftreten kann. Dies bedingt jedoch physiologisch eine Kreislaufreaktion, ein Strömen des Blutes in die Peripherie , das äußerlich zu einer Errötung führt und mit einem Scham- oder Panikempfinden einhergeht. Die Scham erzeugt dabei Schuldgefühle; häufig auch das Erleben von beschämt   oder für das Vorgefallene auch dafür als schuldig angesehen werden, was zu einer Übernahme von Verantwortung durch das „Traumaopfer“ führt, die meist nicht berechtigt ist.

Längerfristig kann es aus diesen Stadien  der Traumareaktion zu einer Fixierung einzelner Aspekte kommen, wo beispielsweise aus der Dissoziation durch wiederholte Trigger eine dissoziative Störung, oder durch die Todesangst eine andauernde Vermeidungshaltung in der Agoraphobie entsteht. Die Entwicklung von Scham und Schuld kann sich längerfristig in einer depressiven Störung manifestieren oder durch Vermeidung zu Zwangsgedanken oder -handlungen führen. Die Reaktion von Hass und Ärger kann eine dissoziale Störung oder generell eine Neigung zu gewalttätigem Verhalten auslösen.

Zusammenfassend lassen sich die genannten Aspekte so darstellen:

      1. Schreck – Freezing – Dissoziation, (Todesangst) – Ohnmacht
→  2. Hass – Ärger (Reaktion)
→  3. Scham – Panik – Schuld (Übernahme der Verantwortung)
→  4. Krankheiten – langfristige Folgen – Posttraumatische Belastungsstörung mit:

  • Dissoziative Störung, Agoraphobie
  • Neigung zu Gewalt
  • Angst – Depression durch Zwangsgedanken/-handlungen                                                     

Eigenartigerweise gibt es auch die Erfahrung, dass Patienten die Dissoziation gar nicht bemerken, sondern sofort mit einer Panik auf eine Triggersituation reagieren. Dies wird dadurch verständlich, dass in der Stressreaktion die Ohnmacht, die mit der Dissoziation verbunden ist, viel unangenehmer ist, da man nicht auf eine Situation reagieren kann, als die Panik, bei der man sich aus einer unangemessenen Situation befreien könnte (1).
Weitere Hinweise zu einer geisteswissenschaftlichen Differenzierung der Ängste und der posttraumatischen Symptomatik finden sich vom Autor in (2).

Geschichte der Traumadiagnose

Die Beschäftigung mit traumatischen Erinnerungen beginnt mit dem Neurologen Jean-Martin Charcot (1825 – 1893), dem „Vater der Neurologie“, welcher seelische Leiden nach dem Konzept der „hysterischen  Erscheinungen“ – wie Lähmungen, Zuckungen, Ohnmachten, emotionale Ausbrüche – in der Clinic Salpetriere in Paris behandelte. Sein Schüler Pierre Janet (1859 – 1947) verfasste 1889 das Essay „L‘automatisme psychologique“, wo erstmals das Krankheitsbild der heutigen posttraumaischen Belastungsstörung beschrieben wurde (3). Der Arzt und Tiefenpsychologe Sigmund Freud (1856 – 1939), der sich in seiner ersten Veröffentlichung zusammen mit seinem ärztlichen Kollegen Josef Breuer (1842 – 1925) in Wien noch auf die Traumahypothese der psychischen Erkrankung bezogen hatte (4), sah später innere Konflikte als Ursache und verleugnete so das äußere Geschehen, die Traumatisierung. Rudolf Steiner (1861 – 1925) hat die Entwicklung der Psychoanalyse recht nahe als Hauslehrer der Familie Specht in Wien miterlebt, wo Josef Breuer Hausarzt war.

Nach Gregor Hasler wurden für Traumastörungen bei Soldaten im 1. Weltkrieg Erkrankungshäufigkeiten von 0,5 % und im 2. Weltkrieg von 2 % gefunden (5), „Kriegsverletzungen“, die als hysterische Neurosen angesehen wurden.

Die Angaben zum 2. Weltkrieg finde ich nach eigenen Beobachtungen sehr fragwürdig, da langfristig nicht nur bei Soldaten, sondern auch in der deutschen Bevölkerung die häufigste Diagnose posttraumatischer Erkrankungen  als „Vegetative Dystonie“ (diffuse Beschwerden, bei denen kein organischer Befund vorhanden ist) bezeichnet wurde, die sehr verbreitet war. Dies wird auch in dem Buch „Kriegskinder und Kriegsenkel“ von Luise Reddemann erwähnt (6). Dieses „epidemische und kollektive Leiden“ führte in Deutschland zu einem gesellschaftlichen Verarbeiten mittels eines ausgeprägten „Kurbetriebs“ mit vielen Kurhäusern im ganzen Land und von den allgemeinen Krankenkassen übernommenen Behandlungen, ganz im Gegensatz z. B. zur Schweiz, wo das Kurwesen in dieser Form nie existierte. Seit einigen Jahren ist die Bezeichnung „vegetative Dystonie“ auch in Deutschland verlassen worden. Weiter führt Hasler aus, dass es für die traumatisierten Korea- und Vietnam-Kriegsveteranen eine Diagnose für die Behandlung in den US-Militärspitälern für ihre allfällige Berentung benötigte, die mit der Übernahme des europäischen Diagnosesystems (ICD) im Sinne des Psychiaters Emil Kraepelin (1856 – 1926) um 1974 im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) nicht mehr gesichert war. Deshalb wurde die Diagnose „Postraumatic Stress Disorder (PTSD)“ in den USA definiert, um dieses für die erkrankten Soldaten zu sichern. Später wurde die Diagnose vor allem auf sexuellen Missbrauch und ähnlich gravierende Erlebnisse angewendet.

Das Problem an diesem Traumakonzept nach empirischen Studien sei, so Hasler, dass 80 % der Menschen Traumatisches erleben, aber lediglich 20 – 60 % danach an akuten oder Trauma-Folgestörungen leiden. Deshalb wurden in der ICD-9 und 10 die anerkannten Ursachen einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“ auf lebensbedrohliche Ereignisse beschränkt definiert, während sie in der aktuellen amerikanischen Version des DSM IV zu DSM V wieder weiter gefasst werden, insbesondere bei Kindern bis zum 6. Lebensjahr. Die weitere Forschung zeigte nach Hasler, dass z. B. beim amerikanischen Militärpersonal die Suizidrate von Kriegsteilnehmern nicht grösser war als die von Mitarbeitern, die nicht im Kriegseinsatz standen. Im Irakkrieg erkrankten 31 % der US-Soldaten, aber nur 2% der englischen Soldaten an PTSD, was die Frage nach weiteren Ursachen aufwirft. Einzelne Soldaten kritisierten bei den Untersuchungen, dass einzig auf die Kriegssituationen Rücksicht genommen wurde und nicht auf zusätzliche komplexe soziale Schwierigkeiten.

Im Vergleich dazu zeigten sich nach der Katastrophe von Fukushima bei den Betroffenen nur anfänglich typische Hirnveränderungen, die dann wieder verschwanden. Die Schwierigkeit liegt am Konzept der PTSD, die nur auf Einzelereignisse ausgerichtet ist, nicht aber auf komplexe psychosoziale Ursachenzusammenhänge und auch Fragen zur Resilienz nicht berücksichtigt, die eine Erkrankung verhindern könnten.

Erst nach den Erfahrungen im militärischen und kriegerischen Zusammenhang wurde in den 1990-er Jahren deutlich, dass insbesondere auch sexualisierte Gewalt risikobehaftet für die Ausbildung einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung ist.

Als Alternative zur „klassischen PTSD“ gibt es im DSM-V die Diagnose Disorder of extreme stress not otherwise specified (DESNOS), welche die komplexen Erscheinungsbilder mit Komorbidität und ebensolche Ursachenzusammenhänge zulässt, die nach Untersuchungen in 40 – 60 % der PTSD vorliegen. Für die ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist seit 2022 die Anerkennung der „Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung“ erreicht worden, wobei eine besondere Ausprägung mit affektiven Problemen, negativem Selbstbild, Beziehungsstörungen, Somatisierung und Aggression mit Selbstverletzung, berücksichtigt werden soll (7). Zusammenfassend wird deutlich, dass Kriegserfahrungen – neben individueller psychischer oder körperlicher Gewalt, besonders in der sexualisierten Form – zu den häufigsten traumauslösenden Faktoren gehören.

Eigene Erfahrungen von Trauma auslösenden Hintergründen

Nach eigenen Praxiserfahrungen zeigt sich die Traumafolgereaktion und die Komorbiditäten nicht nur bei einzelnen todesbedrohlichen Erlebnissen oder, wie im DSM-V für Kinder bestätigt wird, im Erfahren solcher durch wichtige Bezugspersonen. Insbesondere bei sensitiv erlebenden Menschen können auch alltägliche Missachtungen oder extreme religiöse oder wissenschaftlichen Doktrinen in ihrer Umgebung ein traumatisch bedingtes Leiden hervorrufen. Daneben können gleichfalls die oben genannten schlechten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die zu einer gewalttätigen Stimmung und starken Emotionalität in der Familie führen können, diese Reaktionen auch hervorrufen bzw. das Leiden verstärken. Auch ist seit langem ist bekannt, dass eine „high expressed emotion“-Stimmung in der Familie dieses psychische Leiden begünstigt, z. B. auch bei schizophrenen Erkrankungen. Peter Levine und Maggie Kline weisen zudem darauf hin, dass auch „normale“ medizinische Eingriffe im Kindesalter zu Traumafolgestörungen führen können (8).

Als eine spezielle Traumaursache, die bisher noch wenig diskutiert wurde, sei noch der „geistliche Missbrauch“ im religiösen und gesellschaftlichen Umfeld genannt. Es meint den seelsorgerischen Machtmissbrauch mit Abhängigkeit und Gehirnwäsche, der auch in bestimmten politischen Systemen auftreten kann (9) ). Außer bei extremen Formen, dem so genannten rituellen Missbrauch, ist diese Traumadynamik noch wenig bekannt.

Fazit und psychodynamische Behandlung

Bedeutet das oben Angeführte, dass „alles“ Trauma ist? Das muss entschieden verneint werden, da auch eine Vielzahl von psychodynamischen und Resilienz-Aspekten eine Rolle spielen, die das Risiko, eine Traumastörung zu entwickeln, beeinflussen. Ein zentrales Moment bei Entwicklungstraumata ist, welche gedanklichen Überzeugungen als Schutz in der Kindheit innerlich erworben werden mussten oder von der Umgebung übernommen wurden. Diese bleiben auch im späteren Leben als Introjekte (nach C. G. Jung) oder negative Glaubenssätze vorhanden. Nach Luise Reddemann  ist ein wesentliche Therapievorgehen , wie diese Einprägungen heilsam verwandelt werden können (10), die zu Vermeidungsverhalten in Lebenssituationen und Beziehungen geführt haben. Das bedeutet nach ihrer Überzeugung, dass generell, allenfalls mit Ausnahme der so genannten Monotraumata, die Bearbeitung und Verwandlung der Introjekte der Traumakonfrontation vorzuziehen ist.

Der Ansatz des Aktivitäts-basierten Antistress-Programms (ABSR)

Gehen wir nochmals auf die Phänomene der traumatischen Stressreaktion zurück, so finden sich als Polaritäten die Dissoziation und die Schamentwicklung bis hin zur Panik.

In den Vorträgen, die Rudolf Steiner zum Thema der Psychoanalyse 1917 in Basel hielt (11), wird eine ähnliche Polarität geschildert. Steiner erklärte die Phänomene, die von der Psychoanalyse als «nervöse Erkrankungen» konstatiert und behandelt werden, als «unberechtigtes Zusammenfallen», als «Ineinanderpurzeln» der Seelentätigkeiten von Denken, Fühlen und Wollen auf Grund einer geschwächten Wirkung des Ich, was der Tendenz zu Scham und Panik entspräche. Auf der anderen Seite zeigen sich Pathologien, die unter dem Begriff der Dissoziation, des Auseinandergehens gefasst werden, wo ebenfalls das Ich die Seelentätigkeiten nicht zusammenhalten kann.

Betrachtet man mit diesem Ansatz die ABSR-Themen und -Übungen, wie sie im Folgenden tabellarisch dargestellt sind, wird deutlich, dass die ersten drei Übungsbereiche das Gedächtnis, die Handlungsfähigkeit und den bewusstseinsmäßigen Überblick stärken wollen, die bei der Dissoziation und Agoraphobie geschwächt oder aufgehoben sind. Die letzten drei Übungsbereiche unterstützen das Ich gegen das Ausgeliefertsein von Zwangsverhalten, bei der Besserung der Entscheidungsfähigkeit und des sich in Vorurteilen Verlierens, was Typisch für schambesetzte neurotische Störungen ist. Der vierte Übungsaspekt steht in der Mitte und korrespondiert mit der Kontrolle der Handlungen auf beiden Seiten der Abweichung aus der „Mitte“ heraus, wobei im Ideal die Seelentätigkeiten vom Ich gehalten und geordnet werden.

Übersicht über das Therapieprogramm

Aus den Prinzipien dieser Übungsansätze in Beziehung zu den Polaritäten der Stressreaktion, der Tendenz zur Dissoziation und zur Scham/Panik mit den oben angeführten Komorbiditäten kann deutlich werden, dass im ABSR-Programm eine Hilfe für die einseitigen pathologischen Tendenzen gegeben werden kann. Insbesondere die freie Ich-Entscheidung und Tätigkeit des Menschen wird damit gestärkt. Unterstützt wird dies noch durch entsprechende Übungen der Eurythmie, bzw. Heileurythmie.

Literaturverzeichnis

  1. Reddemann L, Dehner-Rau C. Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden: Ein Übungsbuch für Körper und Seele. 6. Aufl. Stuttgart: Trias Verlag; 2020.
  2. Steiner R. Grenzerlebnisse der Seele. Schreck, Scham Zweifel und schreckvollste Verwirrung.  Eingeleitet und kommentiert von Harald Haas. 2. Aufl. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2021.  
  3. Levine, PA. Trauma und Gedächtnis. Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn. 3. Aufl. München: Kösel Verlag; 2020.
  4. Freud S, Breuer J. Studien über Hysterie (1895). Hofenberg; 2021.
  5. Hasler G. Resilienz: Der Wir-Faktor. Gemeinsam Stress und Ängste überwinden. 3. Aufl. Stuttgart: Schattauer; 2020.
  6. Reddemann L. Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta; 2017.
  7. Reddemann L, Wöller W. Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung. 2. Aufl. Göttingen:  Hogrefe; 2017.
  8. Levine PA, Kline M. Verwundete Kinderseelen heilen. Wie Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse überwinden können. 13. Aufl. München: Kösel Verlag; 2005.
  9. Tempelmann I. Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt. Ein Handbuch für Betroffene und Berater. 3. Aufl. SCM R. Brockhaus; 2012.
  10. Reddemann L. Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie: PITT®. Das Manual. Ein resilienzorientierter Ansatz in der Psychotraumatologie. 10. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta; 2020.
  11. Steiner R. Zwei Vorträge über Psychoanalyse. In: Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen. GA 178. 4. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1992.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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