Eltern sein – worauf kommt es an?

Ina von Mackensen

Letzte Aktualisierung: 05.09.2018

Liebe Eltern!

Der Lebensabschnitt vom Beginn der Schwangerschaft bis zur Kindergartenreife ist ein ganz besonderer. Ihn erleben und begleiten zu dürfen erfordert ein Innehalten – wofür wir Muße und Freude, Staunen, Lauschen und Hinfühlen brauchen. Viele Menschen haben den Eindruck, Neugeborene „riechen noch nach Himmel“, sie können uns ganz tief berühren und weisheitsvoll an das Wichtige erinnern. Was ist jetzt das Wichtige?

Beziehung anbieten und Beziehungsfähigkeit veranlagen

Der Mensch ist ein Beziehungswesen und benötigt – bereits vor der Geburt, vor allem aber als Baby und Kleinkind – Zuwendung, Berührung und Wärme, nicht nur körperlicher, sondern auch seelisch-geistiger Art.

Einen guten Rahmen dafür bieten regelmäßige, vorhersehbare, begrenzte Zeiten der Pflege (siehe auch: Pflegerische Gesten in Pflege, Therapie und Pädagogik des kleinen Kindes), in denen die vertrauten Bezugspersonen dem Kind ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und es mit Herzenswärme und voller Interesse an seinen individuellen Bedürfnissen versorgen – und sich für diese Zeit bewusst dem Einfluss der Medien entziehen. Das Stillen ist für den Säugling und seine Mutter eine reiche Möglichkeit des Beziehungsaufbaus. Diese bereits „vorverdaute“ Nahrung ist das passende Geschenk der Mutter für den Lebensanfang. Oft bietet das Abstillen dann die Möglichkeit, dass der Vater die Beziehung zum Kind vertieft. Das Kind braucht klare Beziehungsangebote seitens der Bezugspersonen; das bedeutet präsent zu sein und angemessen auf die kindlichen Zeichen und Signale einzugehen: es beruhigen, Trost spenden und in eine Ausgeglichenheit zurückführen (Regulation), andererseits auch seine Freude und sein Wohlbehagen teilen. Diese Art der Beziehung hilft dem Kind seine Individualität zu entfalten und eine sichere Bindung zu seinen Bezugspersonen aufzubauen (1).

Eigenaktivität und Selbstentwicklung ermöglichen

Babys und Kleinkinder benötigen einen Schutzraum und eine vorbereitete Umgebung, um in Ruhe und frei von Störungen eigenaktiv ihre Fähigkeiten zu entfalten, sich selbst und ihre Umgebung zu erkunden. Jedes Kind braucht feste „Arbeitszeiten“, in denen es in seinem eigenen Tempo seinen Impulsen in der Bewegungsentwicklung und im Spiel nachgehen und so seine Selbstwirksamkeit erfahren kann. Das erfordert viel Zurückhaltung seitens der Erwachsenen und größerer Kinder. Das Spielmaterial sollte altersgemäß sein und es sollte nur eine begrenzte Auswahl gleichzeitig angeboten werden. Weniger ist mehr (Anlass zur Eigeninitiative)!

Zu allen Zeiten, aber vor allem in der Kindheit, wirkt das Erleben der Natur kräftigend und gesundend. Deshalb ist es wichtig dem Kind die Möglichkeit zu schenken, vertiefende Erfahrungen in der Natur zu machen. So erlebt es ihre Ursprünglichkeit in unvergleichlicher Vielfalt und Atmosphäre: den Wald, die Wiese, die Gewässer, die Tierwelt und das Wetter in seinem Zusammenspiel mit allem. Sie müssen sich in diesem Alter nicht ständig Neues einfallen lassen: Das kleine Kind liebt die Wiederholung und wird dadurch in seiner Vitalität gestärkt.

Schutz vor Sinnesüberreizung bieten

Es stellt heute eine zentrale Aufgabe dar, das Ungeborene, den Säugling und das Kleinkind vor Sinnesüberreizung zu schützen. Das Kind lernt nicht nur mit allen Sinnen, sondern ist ganz „Sinnesorgan“, wie Rudolf Steiner es formulierte (2, S. 168). Kinder reagieren auf die allgegenwärtigen Reize der Umwelt noch viel empfindlicher als Erwachsene. Moderne Medien vermögen das Kind zunächst ruhig zu stellen, führen aber langfristig zu wachsender Unruhe und Nervosität.

Die Rücksichtnahme auf die kindlichen Bedürfnisse schränkt die Eltern ein und schließt sie ein Stück weit vom bisher gewohnten sozialen Leben aus. Andererseits ist es wichtig jetzt Beziehungen zu intensivieren, die sich an den kindlichen Bedürfnissen ausrichten und die Bezugspersonen des Kindes auch entlasten können – z. B. durch befreundete Familien, Großeltern, Menschen, die Freude am Zusammenleben und Spiel mit Kindern haben. Und Kinder ermöglichen dem Erwachsenen, wieder mit allen Sinnen die Welt zu entdecken und sich an dieser Freude zu entwickeln. Eltern und Kindern gerecht werden zu wollen stellt, nicht zuletzt aufgrund der Sinnesreizoffenheit, große Anforderungen an die Betreuungssituation von Babys und Kleinkindern. Zugleich ist es wichtig, dass sich das Leben der Eltern nicht in Arbeit und Kinderbetreuung erschöpft, sondern immer wieder Raum für eine erfüllte Partnerschaft und Selbstfürsorge geschaffen wird.

Geistige Verwurzelung durch Selbstentwicklung

Eltern sein ist eine schöne, große und oft schwierige Aufgabe – und eine besondere Chance sich weiterzuentwickeln. In der heutigen Zeit ist es eine Herausforderung, nicht der Ablenkung von sich selbst zu erliegen, z. B. durch die digitale Welt. Wenn Eltern eine geistige Heimat für sich finden, die Sinn, Orientierung und Licht in das Leben bringt, wird das Kind einen positiv prägenden Einfluss erleben, der es in seiner Lebenssicherheit und Widerstandsfähigkeit stärkt. Eine geistige Verwurzelung wird Eltern helfen, Ruhe im Umgang mit ihrem Kind zu bewahren und den Blick für das Wesentliche zu entwickeln. Hilfreich kann eine regelmäßige abendliche Rückschau auf den Tag sein (3), in der man die Ereignisse sowie das eigene Verhalten aus einem gewissen Abstand heraus betrachtet. So wird man nach und nach einen „längeren Atem“ sowie eine gesunde Selbsteinschätzung gewinnen und sich gut auf die Nacht einstimmen. Eine weitere Möglichkeit bietet der Tagesrückblick mit dem Partner, wobei man sich gegenseitig in 5–7 Minuten das eigene Erleben des Tages erzählt, ohne dass der andere diese Erzählung kommentiert. Beide Übungen können bewirken, dass man wie von selbst lernt einander besser wahrzunehmen, was die Grundvoraussetzung für ein gutes Zusammenleben und eine nachhaltig sich entwickelnde Partnerschaft ist.

Gesunden Schlaf herbeiführen helfen

Kinder wie Eltern brauchen ausreichend Schlaf, um neue Kräfte zu sammeln für die Herausforderungen des nächsten Tages. Im Schlaf verarbeiten wir Erlebnisse und machen uns neue Fähigkeiten zu eigen. Babys müssen erst einen Schlafrhythmus lernen, der sich dem Tag-Nacht-Rhythmus allmählich anpasst

"Schlafen lernen - Die Nacht als der Spiegel des Tages" Aus dem Vortrag von Dr. Christoph Meinecke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Gesunder Schlaf wird begünstigt durch eine Rhythmisierung des Alltags, durch Schutz vor Überreizung, durch ausreichend Bewegung am Tag, durch ausreichend Ruhe, besonders vor dem Schlafengehen dank eines Einschlafrituals – und nicht zuletzt durch innere Ruhe, die die Bezugspersonen in sich entwickeln. Das Ziel ist, dem Kind hier so viel Begleitung wie nötig zu geben, um es zu befähigen nach und nach selbst zur Ruhe und in den Schlaf zu finden.

Literaturverzeichnis

  1. Glöckler M, Goebel W, Michael K. Kindersprechstunde. Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber. 21. Aufl. Stuttgart: Urachhaus Verlag; 2018.
  2. Steiner R. Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik. GA 304a. Vortrag vom 30.8.1924. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1979.
  3. Steiner R. Rückschau: Übungen zur Willensstärkung. Zusammengestellt von Martina Maria Sam. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2010.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin