Musiktherapie bei Unruhezuständen

Viola Heckel

Letzte Aktualisierung: 11.04.2023

Unruhe kann durch die Erfahrung der Stille, insbesondere einer erfüllten Stille – wie wir ihr eindrucksvoll in der Musik begegnen – befriedet werden und in die Ruhe führen. Der Geiger Yehudi Menuhin spricht von der schweigenden Stille: "Aus dem Schweigen entsteht alles, was lebt und dauert. […] [es] verbindet uns mit dem All […], es ist die Wurzel der eigenen Existenz und damit das Gleichgewicht des eigenen Lebens."(1) Mit diesen Worten wird auf die geistige Heimat der Musik verwiesen.

Mit dem Gefühl von Unruhe geht einher, dass der Mensch zum Teil die Verbindung zur geistigen Welt verliert, von der er sich zuvor getragen wusste. Die Musik als Schwellenkunst kann hier Trost und Sicherheit vermitteln. Gelingt es in der Musiktherapie, Momente innerer Ruhe herzustellen, hilft dies dem palliativ erkrankten Patienten, sich mit der geistigen Welt zu verbinden und daraus innere Kraft zu schöpfen. Dem Ungewissen der Zukunft begegnet er so mit mehr Gelassenheit und Zuversicht.

Das Lauschen auf den kommenden Ton oder/und das Nachlauschen auf zuvor Erklungenes sind dabei wichtige Vermittler.

Patientinnen und Patienten sprechen bei ihren musiktherapeutischen Erlebnissen oft von einem inneren Schwingen und Vibrieren. Ihre Beschreibungen reichen von der körperlichen Ebene, z. B. Wärmeempfindung als Resonanz des Instrumentenspiels direkt an ihrem Körper, bis hin zu Schilderungen wie "die Seele hat wieder Schwingen" und "der Geist ist erfrischt". Oder auch ganz grundsätzlich nach Gesang in Verbindung mit Leierklang: "Ich fühle mich ganzheitlich durchströmt und belebt von den Tönen und Klängen."

Therapeutische Empfehlungen

Unruhe in Verbindung mit Erschöpfung und Schlaflosigkeit

Durch die Musiktherapie hervorgebrachte Erlebnisse unterstützen die Patienten in dem Wechsel, sich mit ihrem Leib stärker zu verbinden und sich wieder zu lösen. Wir beobachten dann, wie sie sich während der Musiktherapie entspannen oder sogar einschlafen und dann mit geklärtem Blick die Augen öffnen bzw. erfrischt wieder aufwachen.

  • Bei starker Erschöpfung ist zunächst ein rezeptiver Ansatz angezeigt: mit Leiervorspiel und Gesang sowie Resonanzerfahrungen mit der Tao-Leier oder der Tenor-Chrotta , die von der Therapeutin/dem Therapeuten meist an den Füssen gespielt werden.
  • Wenn möglich, kommen Eigenaktivität mit Singen sowie Bordun-Leier oder Kantele-Spiel hinzu. Dabei sind die rhythmisch-musikalischen Vorgänge zu beachten, wie der Wechsel von Klingen und Verklingen und beim Spiel des Instrumentes eine vom musikalischen Atem geführte Bewegung.

Unruhe nach Chemotherapie

Einige Patienten schildern nach der Chemotherapie eine innere Unruhe im Sinne von Sich-verloren-fühlen. Sie spüren sich innerlich nicht mehr zentriert. Die Musik hilft ihnen, wieder eine innere Orientierung zwischen Umkreis- und Zentrumkräften zu finden und Kontakt mit ihrer geistigen Heimat aufzunehmen.

  • Rezeptive Musiktherapie mit Vorspielmusik und Hörtherapien mit Alt-Leier sowie Leier und Gesang.

Andererseits kennen wir das Zustandsbild der erstarrten Ruhe, in dem die Patienten äußerlich ruhig erscheinen, sich innerlich jedoch eine angsterfüllte Seele ohne Befriedung offenbart.

  • Hilfreich ist ein therapeutischer Ansatz, der zu inneren Bewegungen anregt, die seelische Enge behutsam in die Weite führt bzw. ihr Hin- und Herschwingen ermöglicht, z. B. die Kantele aus dem Umkreis hören und wenn möglich, auch selbst spielen. Auf ähnliche Weise kann mit hellen, lang nachklingenden Tönen der Zimbel das Wechselspiel von Zentrum- und Umkreiskräften angeregt werden.

Unruhe von Patienten und Angehörigen durch Diagnoseschock

In manchen Fällen ist es hilfreich, wenn Angehörige bei der Musiktherapie anwesend sind. Die Beruhigung aller überträgt sich dann auf die Patientin/den Patienten (2).

  • Geeignet ist Vorspielmusik mit der Alt-Leier, im Duktus eher offenlassend und nicht zu emotional gefärbt. Ziel ist es, eine friedliche Atmosphäre zu schaffen, die zur Beruhigung führt.

Liegt die Unruhe in einem inneren Krisenmoment begründet, z. B. in dem Erleben, dass Bisheriges nicht mehr trägt, ist vorrangig ein musiktherapeutischer Ansatz indiziert, der das Selbstvertrauen stärkt.

  • Gemeinsames Singen oder Vorsingen: Ein Lied, das für die Patientin/den Patienten Bedeutung hat, um der Seele eine Richtung zu geben.
  • Momente der Eigenaktivität ermöglichen: Über die Saiten der Leier oder Kantele zu streichen, kann wichtig sein. Ebenso gilt es, die individuelle Patientensituation wahrzunehmen und zu respektieren, wenn in diesem Moment das Zuhören bevorzugt wird.

Für die Patienten ist es sehr hilfreich, im Musikalischen etwas zum Erlebnis zu bringen, womit sie seelisch-geistig beschäftigt sind. Dazu ein Beispiel: Bei einer Patientin stellte sich innere Ruhe ein, nachdem sie in der Musiktherapie beim Singen einer Melodie die Bewegung zwischen hohen und tiefen Tönen wahrnehmen konnte. Dieses für sie klärende Erlebnis verlieh ihr zugleich innere Aufrichtekraft. 

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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