Qualitätskriterien für einen Kaiserschnitt

Angelika Maaser, Justine Büchler, Merja Riijärvi, Angela Kuck, Johanna Hünig

Letzte Aktualisierung: 18.11.2020

Die Kaiserschnittrate steigt weltweit kontinuierlich, sodass heute fast jedes fünfte Kind (1) auf diese Weise geboren wird (in Europa z. B. 16,1 %, in Island bis 56,9 %). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält fest, dass bei einer Kaiserschnittrate von mehr als 10 – 15 % die gesundheitlichen Nachteile für Mütter und Kinder bereits größer sind als der gesundheitliche Nutzen (3). 
Die Belege für die langfristigen gesundheitlichen Folgen einer solchen «Kaiserschnitt-Epidemie» mehren sich: Mittels Kaiserschnitt geborene Kinder haben ein erhöhtes Risiko im späteren Leben, an Diabetes (4) zu erkranken. Sie leiden häufiger an Allergien (5), Asthma (6), Übergewicht (7) sowie Herz-Kreislauferkrankungen (8). Auch den Müttern kann die Integration dieser möglicherweise traumatisierenden Erfahrung jahrelang schwerfallen (9). Sie haben länger Schmerzen, erkranken häufiger an Depressionen nach der Geburt (10) und haben mehr Komplikationen bei Folgeschwangerschaften (11). 

Dem unstrittigen Nutzen der Operation durch die Senkung der Sterblichkeits- und Erkrankungsrate in geburtshilflichen Notsituationen stehen erhebliche epidemiologische Nachteile gegenüber, die weit über die unmittelbaren Operationsfolgen für Mutter und Kind hinausgehen. 
Um die möglichen negativen Folgen eines Kaiserschnitts für Kind und Mutter zu minimieren, hat eine Expertengruppe aus anthroposophisch arbeitenden Geburtskliniken sowie niedergelassenen Hebammen, Gynäkologinnen und Pädiatern die folgenden Qualitätskriterien für eine Kaiserschnittgeburt erarbeitet. Sie wollen – wo ein Kaiserschnitt nötig ist – der Weiterentwicklung einer zeitgemäßen «Kultur des Gebärens» dienen. 

Vor dem Kaiserschnitt

Was wollen wir erreichen:

Mutter und Kind haben sich gemeinsam auf das Geburtsereignis eingestimmt und begegnen sich seelisch-geistig. 

Der Kaiserschnitt findet statt, wenn Mutter und Kind darauf vorbereitet sind.

So können wir handeln:

  • Bei geplanten Kaiserschnitten beziehen wir kunsttherapeutische Verfahren – z. B. Plastizieren, Malen, Musik oder Sprache – zur Entspannung und zur Stärkung der Selbstwirksamkeit (Resilienz) ein. 
  • Durch Rhythmische Einreibungen, Öldispersionsbäder oder Wickel und Auflagen fördern wir Selbstwahrnehmung der Mutter als Hülle für ihr Kind (Embodiment).
  • Durch den Einsatz der Heileurythmie stabilisieren wir die Schwangerschaft und bereiten auf das Geburtsereignis vor. 
  • Wir leiten die Schwangere an, Kolostrum mit der Hand auszustreichen. Dies stimuliert die Oxytocinausschüttung und gewährleistet eine von Narkosemitteln rückstandsfreie Milch und ein für das Kind unverfälschtes Geschmackserlebnis.
  • Wenn es medizinisch vertretbar ist, warten wir den Beginn der Wehen ab, um Kind und Mutter in den Zeitpunkt des Kaiserschnittes einzubeziehen.
  • Wir kündigen alle Schritte an, die für die Operation notwendig sind und erklären sie so, dass Mutter und Partner die Entscheidungen des geburtshilflichen Teams nachvollziehen und ihnen zustimmen können.
  • Wir gewährleisten die Kontinuität der Hebammen-Betreuung im Gesamtprozess, um eine sichere zwischenmenschliche Basis zur Mutter aufzubauen. Personelle Kontinuität erhöht die Sicherheit des Eingriffs (12).
  • Wir wertschätzen die Plazenta als lebenswichtiges Organ des Kindes. Wir betrachten sie nicht als Abfall. Deshalb thematisieren wir im Voraus mit den Eltern den Umgang mit der Plazenta nach der Geburt.
  • Wir beziehen Partner und nahestehende Personen in unsere Begleitung mit ein und bieten für die veränderten Umstände klärende Gespräche nach den Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation an.

Während des Kaiserschnitts

Was wollen wir erreichen:

Der Geburtsmoment erscheint als einzigartiges Erlebnis des Kindes und als bedeutsames Ereignis im Leben der Mutter. 

Der Geburtsraum ist frei von Angst und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. 

Wir reduzieren unvermittelte Sinnesreize für das Kind. 

Das Kind ist keinen traumatisierenden Handlungen ausgesetzt. 

So können wir handeln:

  • Als Hebamme und Ärztin begleiten wir die Mutter. Wir sind bereit, neben den äußeren Notwendigkeiten, manchmal stellvertretend für die Mutter, eine präsente innere Haltung einzunehmen. 
  • Wir achten auf den Schutz der Intimsphäre der Frau durch eine achtsame Berührungsqualität und die Lagerung. Das gesamte Team sorgt für positive, auditive, visuelle, olfaktorische und taktile Sinneseindrücke für Mutter und Kind.
  • Wir wenden eine schonende Operationstechnik an und gestalten die Entwicklung des Kindes sanft in geburtsähnlicher Weise. 
  • Wir vermitteln alle Sinneseindrücke behutsam an das Kind: Wir berühren schützend und sorgen für Wärme; gleichzeitig schirmen wir von lauten Geräuschen und grellem Licht ab. 
  • Wir ermuntern die Mutter oder eine nahestehende Person zum Bonding.
  • Wir gehen respektvoll mit Plazenta und Nabelschnur als Teil des kindlichen Wesens um.

Nach dem Kaiserschnitt

Was wollen wir erreichen:

Die Mutter kann ihre Geburtserfahrung bejahen. Sie fühlt sich nach der Kaiserschnittgeburt wieder als ein intaktes physisch-seelisch-geistiges Wesen. 

Das Kind kann die fehlenden taktilen Sinneseindrücke der Vaginalgeburt nachträglich erleben.

Das Kind öffnet sich schrittweise dem ganzen Reichtum der Sinneswelt. Das Kind entwickelt sich altersgemäß. 

Der Partner / die Partnerin findet ihre Rolle und Identität in der neuen Familienkonstellation. 

So können wir handeln:

Für die Mutter:

  • Wir vermitteln die kontinuierliche Begleitung und Präsenz einer Hebamme im Rahmen einer umfangreichen stationären wie aufsuchenden Wochenbettbetreuung. 
  • Wir initiieren, ermutigen und unterstützen eine anhaltende gute Stillbeziehung. 
  • Wir fördern das Bonding mit Mutter, Vater, Geschwisterkindern oder nahestehenden Bezugspersonen. 
  • Wir bieten körpertherapeutische Maßnahmen, z. B. Rhythmische Einreibungen, Wickel und Auflagen oder ein Babyheilbad (nach Meissner) für Mutter und Kind an. 
  • Wir bieten zeitnah im Wochenbett einen nonverbalen Rückblick auf die Geburt mit Mutter, Vater oder nahestehender Bezugsperson in Form einer gemeinsamen künstlerischen Bildgestaltung an. 
  • Wir ermöglichen eine Nachbesprechung der Geburt mit Hebamme und Ärztin oder Arzt an einem dafür geeigneten Ort und Zeitpunkt. 
  • Wir regen ein Abschlussritual für Schwangerschaft und Geburt an und unterstützen damit eine Zukunftsvision für die Zeit nach der Geburt. 
  • Wir empfehlen und vermitteln bei Bedarf postpartale Physiotherapie, Kunsttherapie, Heileurythmie, Biographiearbeit oder Traumatherapie. 

Für das Kind:

  • Wir pflegen die Sinne achtsam und minimieren Zivilisationsreize.
  • Wir beobachten und unterstützen die altersgemäße Reflexrückbildung und Entwicklung. 
  • Wir vermitteln anthroposophische Körpertherapien, z. B. äußere Anwendungen, Heileurythmie und später ggf. Spieltherapie und Frühförderung. 

Für den Vater:

  • Wir vermitteln Kontakte und Gespräche mit anderen Vätern. 
  • Wir regen praktische Tätigkeiten und körperbetonte Aktivitäten zum Stressabbau an. 
  • Wir vermitteln Kunsttherapie und Anthroposophische Körpertherapien zur Verarbeitung eines traumatischen Geburtserlebens.
  • Wir bahnen die Rückkehr in den familiären Alltag und das soziale Umfeld, gegebenenfalls durch Haushaltshilfen. 
  • Wir ermutigen den Vater, Elternzeit in Anspruch zu nehmen und bestärken ihn in der Freude an der Kleinkinderzeit. 

Zwei kleine Leitbilder für per Sectio geborene Kinder

Du bist in einem tosenden Sturm ... Nass bist du bis auf die Knochen, durchgefroren, hungrig und verloren und hast einen unbekannten, langen Weg nach Hause vor dir. Nun siehst du ein Licht in der Ferne ... lauter Taschenlampen. Es kommen dir Menschen entgegen, die haben warme Jacken, Gummistiefel und Butterbrote dabei … Sie haben auf dich gewartet, hatten Sorge und sind dir entgegengekommen.

«Wenn du in Not bist, bekommst du Hilfe!» – Dieses Gefühl wird Kaiserschnittkindern fürs Leben mitgegeben. Denn einmal werden die Eltern nicht mehr da sein. Vielleicht kommst du einmal beim Klettern im Himalaya in Not ... Aber drinnen in dir lebt tief verwurzelt und ewig pulsierend die Gewissheit: «Wenn ich in Not bin, bekomme ich Hilfe!» Dies hast du einmal, ganz am Anfang, auf dieser Erde erlebt, und diese Grundstimmung lässt dich nie mehr los … 

Weiterführende Information / Links

Kaiserschnitt – Informationen und Empfehlungen für Eltern:
https://www.anthromedics.org/PRA-0649-DE

Verein für Anthroposophische Hebammenkunde:
www.vfah.de

Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland:
www.gaed.de

Präpartale Kolostrumgewinnung:
www.stillen-institut.com

Babyheilbad nach B. Meissner:
www.herzensfaden.com

Spieltherapie und Frühförderung:
www.der-hof.de

Literaturverzeichnis

  1. Boerma T, Ronsmans C, Melesse DY, Barros AJD, Barros FC, Juan L, Moller AB, Say L, Hosseinpoor AR, Yi M, de Lyra Rabello Neto D, Temmerman M. Global epidemiology of use of and disparities in caesarean sections. Lancet 2018;392(10155):1341-1348.[Crossref]
  2. Franke T. Vaginal-operative Geburt: Zahlen, Daten, Studien. Deutsche Hebammenzeitschrift 2019;71(6):14-17.   
  3. World Health Organization. WHO statement on caesarean section rates. WHO reference number: WHO/RHR/15.02; 2015. Available at https://www.who.int/reproductivehealth/publications/maternal_perinatal_health/cs-statement/en/ (16.11.2020)
  4. Cardwell CR, Stene LC, Joner G, Cinek O, Svensson J, Goldacre MJ, Parslow RC, Pozzilli P, Brigis G, Stoyanov D, Urbonaitė B, Šipetić S, Schober E, Ionescu-Tirgoviste C, Devoti G, de Beaufort CE, Buschard K, Patterson CC. Caesarean section is associated with an increased risk of childhood-onset type 1 diabetes mellitus: a meta-analysis of observational studies. Diabetologia 2008;51:726–735.[Crossref]
  5. Bager P, Wohlfahrt J, Westergaard T. Caesarean delivery and risk of atopy and allergic disease: meta-analyses. Clinical and Experimental Allergy 2008;38(4):634-642.[Crossref]
  6. Chu SY, Chen Q, Chen Y, Bao YX, Wu M, Zhang J. Cesarean section without medical indication and risk of childhood asthma, and attenuation by breastfeeding. PLoS One 2017 Sep 18;12(9):e0184920.[Crossref]
  7. Keag OE, Norman JE, Stock SJ. Long-term risks and benefits associated with cesarean delivery for mother, baby, and subsequent pregnancies: Systematic review and meta-analysis. PLoS Medicine 2018;15(1):e1002494.[Crossref]
  8. Taoac K, Harab Y, Ishiharaa Y, Ohshima Y. Cesarean section predominantly affects right ventricular diastolic function during the early transitional period. Pediatrics & Neonatology 2019;60(5):523-529.[Crossref]
  9. Weidner K, Garthus-Niegel S, Junge-Hoffmeister J. Traumatische Geburtsverläufe: Erkennen und Vermeiden. Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie 2018;222(5):189-196[Crossref]
  10. Xu H, Ding Y, Ma Y, Xin X, Zhang D. Cesarean section and risk of postpartum depression: A meta-analysis. Journal of Psychosomatic Research 2017;97:118-126.[Crossref]
  11. Daltveit AK, Tollånes MC, Pihlstrøm H, Irgens L Cesarean Delivery and Subsequent Pregnancies. Obstetrics & Gynecology 2008;111(6):1327-1334.[Crossref]
  12. ten Hoope-Bender P. Continuity of maternity carer for all women. Comment. Lancet 2013;382( 9906):1685-1687.[Crossref]

Literaturempfehlungen

Lutz F, Gianom M. Vaginal Seeding – Chance oder Risiko? Die Hebamme 2018;31(1):45-53.[Crossref]

Soldner G, Stellmann HM. Individuelle Pädiatrie. Leibliche, seelische und geistige Aspekte in Diagnostik und Beratung. Anthroposophisch-homöopathische Therapie. 5. Aufl. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2018.

Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle vermeiden - erkennen – behandeln. 2. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 2017.

Rosenberg MB. Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. 12. Aufl. Paderborn: Junfermann Verlag; 2016.

Schad W. Die verlorene Hälfte des Menschen. Die Plazenta vor und nach der Geburt in Medizin, Ethnologie und Anthroposophie. 3. Aufl. Stuttgart: Freies Geistesleben; 2016.

Maris B. Frauenheilkunde und Geburtshilfe: Grundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin. Berlin: Salumed Verlag; 2012.

Selg P. Ungeborenheit. Die Präexistenz des Menschen und der Weg zur Geburt. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts; 2009.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin