Wesen des Schmerzes

Matthias Girke

Letzte Aktualisierung: 02.10.2019

Schmerz tritt bei Patienten in vier Dimensionen auf. Zunächst handelt es sich um die räumlich lokalisierbare Schmerzmanifestation, das „Wo“ des Schmerzes und damit um die somatische Ebene. Die zweite, zeitliche Dimension weist auf die prozessuale Schmerzqualität. Hier steht nicht mehr die räumliche Lokalisierbarkeit im Vordergrund, sondern die zeitliche Modulation, das „Wann“. Der Schmerz kennt nicht nur eine Raumgestalt, sondern auch eine Zeitgestalt: Der rheumatische Schmerz erfährt sein Maximum in den Morgenstunden, um sich während des Tages zu bessern, andere Schmerzen kennen ein intermittierendes, zum Teil rhythmisch gegliedertes Auftreten (kolikformer Schmerz). Zu dieser prozessualen Schmerzdimension gehören auch die begleitenden pathophysiologischen Veränderungen, die z. B. den muskulären krampfartigen Schmerz mit myogelotischer Verhärtung oder den entzündlich-brennenden Schmerz mit Inflammationsprozessen in Beziehung bringen. Die vielfältige vegetative Symptomatologie, die den Schmerz begleiten kann, gehört ebenfalls zu dieser prozessualen Ebene des Schmerzes. Als dritte Schmerzdimension wird die Empfindungsqualität, das „Wie“ des Schmerzes differenziert. Während die ersten beiden Ebenen noch wie „von außen“ aufgesucht werden können, indem der schmerzhafte Leibesbezirk untersucht und die zugrunde liegenden, z. B. entzündlichen, Prozesse diagnostiziert werden können, wird mit der seelischen Dimension des Schmerzes die Innenwelt des Patienten betreten, die sich durch Sprache, Gesten, Gebärden und Mimik äußert. Der Patient unterscheidet zwischen hellen, reißenden und ziehenden, neuralgiformen Schmerzen und stellt ihnen in seinem Erleben die dumpfen, drückenden, oftmals entzündungsbegleitenden Schmerzen gegenüber. Das rhythmisch gegliederte Schmerzempfinden vervollständigt die Dreigliedrigkeit in der Schmerzperzeption. Zu der seelischen Dimension gehört im Weiteren das vom Patienten erlebte und durch den Schmerz entstehende Leid. Bei zahlreichen Patienten bedarf es einer differenzierten Diagnostik, ob für den offenkundig bestehenden Leidensdruck das Schmerzerleben oder das seelische Leiden führend ist. Eine vierte Schmerzdimension berührt die Bedeutung des Schmerzes, das „Warum“. Schmerz hat zunächst einen Signalcharakter, der auf einen Krankheitsprozess, eine Fehlfunktion oder auch Verletzung der körperlichen Integrität hinweist. Darüber hinaus fragen zahlreiche Patienten – insbesondere bei längerfristigen Schmerzerkrankungen – was der Schmerz „ihnen sagen will“, also nach der inneren Bedeutung des Schmerzes als vierte kontextuelle, sinnorientierte Dimension.

  • Kontextuelle, sinnorientierte Dimension: das „Warum“ des Schmerzes
  • Seelische Dimension, Schmerzempfindung: das „Wie“ des Schmerzes
  • Zeitlich-prozessuale Dimension: das „Wann“ des Schmerzes
  • Räumliche Dimension: das „Wo“ des Schmerzes

Abb. „Abstrakter Kopf: Stummer Schmerz“ von Alexej Jawlensky. @ akg-images

Therapeutische Ziele in der Schmerztherapie

Die vier Dimensionen im Schmerzerleben des Patienten führen zu unterschiedlichen therapeutischen Zielrichtungen.

Der durch umschriebene somatische Ursachen entstehende Schmerz ist oftmals einem interventionellen, auf den lokalisierbaren Befund orientierten Therapieverfahren zuzuführen.

Die Lebensorganisation braucht ihre therapeutische Unterstützung: Schmerz führt zu Abbauprozessen und Katabolismus. Umgekehrt braucht eine am gesamten Wesen des Patienten ausgerichtete Schmerztherapie diese Förderung der Vitalität und damit der Lebensorganisation.

Die dritte, seelische Ebene des Schmerzes – und damit seine Empfindungsqualität – ist für die Auswahl des Arzneimittels entscheidend. Nicht nur die Unterscheidung zwischen neuropathischen und nozizeptiven Schmerzsyndromen wird durch die Empfindungsqualität mitbestimmt, sondern auch die differenzierte Schmerztherapie mit den Arzneimitteln der Anthroposophischen Medizin ist abhängig von der jeweiligen Schmerzqualität.

Die vierte, sinnorientierte Dimension wird vor allem bei längerfristigen Schmerzsyndromen erfragt. Welche Botschaft vermittelt der Schmerz und welche Bedeutung hat er für die eigene innere Entwicklung? Die Gesprächstherapie, Betrachtung der Biografie und der Lebenswerte und
-zielsetzungen hat hier eine große Bedeutung.

So sehr im praktischen Alltag die unmittelbare medikamentöse Hilfestellung für den Schmerzpatienten im Vordergrund steht, ist doch die Aufmerksamkeit auf die anderen Schmerzdimensionen von essentieller Bedeutung, da sie die therapeutischen Vorgehensweisen auf das gesamte Wesen des Menschen erweitern und integrativ nach den leiblichen, seelischen und geistigen Dimensionen fragen.

Schmerztherapie in der Anthroposophischen Medizin umfasst damit mehrere Behandlungsmodalitäten. Neben den Arzneimitteln zur Schmerzkontrolle und -therapie werden Äußere Anwendungen und physiotherapeutisch orientierte Verfahren, wie die Rhythmische Massage nach Wegman/Hauschka, angewandt, künstlerische Therapien eingesetzt und dem Patienten eine Gesprächstherapie, die auch den biographischen Kontext beleuchtet, angeboten.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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