Behandlung von Unruhezuständen mit Heileurythmie

Ingrid Hermansen

Letzte Aktualisierung: 04.12.2022

Wie im Einführungsartikel (https://www.anthromedics.org/PRA-1012-DE) dargelegt, wird das Symptom der Unruhe durch Belastung auf verschiedenen Ebenen verursacht. In der Eurythmie folgt der äußere/sichtbare Mensch Bewegungsgesetzen, die übersinnliche/nichtkörperliche Ebenen des Seins bestimmen, und unterstützt so gleichsam die Erfahrung der eigenen „vollständigeren“ Wirklichkeit. Die Eurythmie im Allgemeinen fördert dieses Gefühl der Erfüllung oder Ganzheit. Betrachtet man das viergliedrige Bild des Menschen, so weist der Einführungsartikel auf ein genaueres Verständnis hin, welche Glieder in der Heileurythmie jeweils angesprochen werden können.

Therapeutische Empfehlungen

In der Erfahrung der Unruhe fühlt sich das Selbst der Person oft machtlos und anderen ausgeliefert. Die Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstkompetenz kann hier helfen.

  • Vokalübungen werden als „das Individuum zu sich selbst bringend“ charakterisiert (1). In der ersten Übung des Heileurythmiekurses (2) wird das unruhige Kind dazu gebracht, gleichzeitig mit Armen und Beinen ein A und ein U auszuführen, wobei die linke Hälfte vor der rechten kommt. Auf die Trennung zwischen links und rechts wird als ein Element hingewiesen, dass ein rhythmisches, jambisches Element in die Übung einbringt. Rhythmus ist eine zentrale Eigenschaft des Systems der menschlichen Mitte, der Ort, an dem wir gleichsam „am wahrhaftigsten menschlich“ sind.
  • Der Doppellaut AU hat eine enge Verbindung zu unserem Herzen. In A gehen wir zurück zu unseren Ursprüngen (3), in U erkennen wir unsere Menschlichkeit an (4).
    Die Übung „Jambisches A“ kombiniert somit grundlegende Werkzeuge zur Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstkompetenz: eine Verankerung in der eigenen Mitte, ein rhythmisches Schwingen zwischen Festhalten und Loslassen, eine Bestätigung des eigenen Geistes.

Fallvignette: Eine Patientin, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litt, entwickelte starke Rückenschmerzen und Hypervigilanz, die sich in Unruhe äußerte, um die Flashbacks in Schach zu halten. Die Körperhaltung war gebeugt und der Blick gesenkt. Nach einigen Wochen des Übens der jambischen A-Übung war es nicht mehr notwendig, sie daran zu erinnern den Kopf zu heben, ihre Haltung hatte sich aufgerichtet, „weil ich jetzt selbstbewusster bin“, erklärte sie. Die trockene, sachliche Qualität der Übung (man konzentriere sich auf das Gefühl, dass die linke Seite führend ist) fokussiert die Aufmerksamkeit und unterstützt die Propriozeption. 

  • Wenn es nicht möglich ist, die klassische Übung auszuführen, können die Elemente dennoch geübt werden, z.B. indem man sich zwischen A und U mit den Füßen, den Händen oder den Fingern bewegt, wobei es hilfreich ist, dies rhythmisch zu tun. Wenn die Patientin oder der Patient nicht in der Lage ist, sich selbst zu bewegen, kann die Therapeutin oder der Therapeut das A U mit den Füßen ausführen. Hier wird ein sanfter Druck auf die Fußsohlen eine „Erinnerung an die aufrechte Haltung“ hervorrufen, der archetypische Ausdruck des Selbst.

Die Unruhe legt sich, wenn die Seele in ihrer Verbindung mit dem Körper unterstützt wird. Die Arbeit mit den unteren Sinnen (Stimulation des Tastsinns, des Gleichgewichts, der Bewegung und des Lebenssinns) ist ein hilfreiches Instrument.

  • Der Vokal E bildet Kontaktpunkte, sei es mit den Armen, den Beinen, den Fingern oder Füßen. Man mag sich ganz fest spüren wollen, und solange die Gliedmaßen tatsächlich aufeinander zu ruhen kommen, ist das in Ordnung. Eine Frau faltete in ihrer Verzweiflung die Hände fest zusammen. Das allmähliche Heranführen der sich kreuzenden Finger an die Fingerspitzen half ihr, aus dem verkrampften Griff in einen Griff zu wechseln, den sie spürte und beherrschte. Das E wurde dann mit einzelnen Fingerpaaren durchgeführt.
  • Das E kann mit der Liebesgeste zusammengebracht werden , die einen weiten Horizont umfasst (unabhängig von der Größe der körperlichen Geste). Es ist nicht notwendig, die Seelengeste zu benennen, die Bewegungsgeste beeinflusst den Körper auf die gleiche Weise wie das Gefühl der Liebe. Die Geste selbst ist das Wichtigste, eine Geste, bei der man eine fließende, strömende Verbindung vom Brustbeinbereich bis zu den Fingerspitzen empfindet. Sie braucht nicht von einem bestimmten Gefühl begleitet zu werden, denn das könnte in einem verletzlichen Zustand viel zu mühevoll sein. In der weiten, peripheren Liebesgeste kann es sich so anfühlen, als würde man am Meeresufer stehend einen Kreis mit dem Horizont bilden und ein großes Stück der Welt in den Armen halten. In E gehen Lichtstrahlen von dem Punkt aus, die möglicherweise so weit hinausreichen, wie man zuvor umarmt hat. Es kann eine beruhigende Erfahrung sein, sich in beiden „Welten“ zu Hause zu wissen.

Unruhe verstärkt die katabolischen Prozesse und raubt Energie.

  • Aufbauprozesse werden durch konsonantische Eurythmie unterstützt , L wird oft direkt als erfrischend erlebt. Wenn größere Armgesten nicht möglich sind, gibt es viele andere Möglichkeiten, das L einzusetzen. Man kann sich eine Welle vorstellen, die vor dem Körper aufsteigt, sich über die Schultern spitzt und hinter dem Rücken wie eine Gischt abläuft.
  • Es kann im Halleluja beobachtet werden. Seine reinigende Qualität wird oft geschätzt, besonders wenn darauf geachtet wird, die Geste recht klein zu halten, um den Betrachter nicht zu überfordern.
  • Das M kann ähnlich wie die Liebesgeste wirken, indem es den Körper mit Wärme durchflutet und den Weg für den Schlaf ebnet.

Körperlich äußert sich die Unruhe in Zappeligkeit, Kühle, Verspannungen, schnellem Atmen und Herzschlag.

  • Diese Symptome lassen sich in der Regel mit den oben beschriebenen Übungen etwas lindern. Therapeutinnen oder Therapeuten, die kein Heileurythmistinnen oder Heileurythmisten sind, können für oder mit der Patientin oder dem Patienten langsam und atmend eine kleine Kontraktions- und Expansionsübung mit der Geste des sich öffnenden A und kondensierenden U in den Unterarmen oder Händen durchführen.

Literaturverzeichnis

  1. Steiner R. Heileurythmie. Sechster Vortrag, 17. April 1921. GA 315. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2021.
  2. Steiner R. Heileurythmie. Erster Vortrag, 12 April 1921. GA 315. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2021.
  3. Steiner R. Eurythmie als sichtbare Sprache. Dritter Vortrag, 26. Juni 1924. GA 279. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2019.
  4. Steiner R. Heileurythmie. Zweiter Vortrag, 13. April 1921. GA 315. Basel: Rudolf Steiner Verlag; 2021.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin