Kunsttherapeutische Begleitung des unruhigen Patienten

Dagmar Brauer, Ursula Müller, Linda Wobbe

Letzte Aktualisierung: 23.08.2022

Unruhe hat viele mögliche Ursachen. Grundlegend ist es daher, dass die Therapeutin, der Therapeut in der Begegnung mit unruhigen palliativen Patienten die eigene innere und äußere Ruhe mit in das Krankenzimmer bringt. In der kunsttherapeutischen Begleitung richten wir uns nach der individuellen Situation des Menschen – er steht mit seinen körperlichen, seelischen und kognitiven Bedürfnissen und Befindlichkeiten im Mittelpunkt. Erst wenn die Patientin, der Patient so bequem als möglich gebettet ist, so wenig Schmerzen wie möglich hat (https://www.anthromedics.org/PRA-0929-DE) und wenn auch basale Bedürfnisse wie zum Beispiel Durst, Wärmeregulation oder Lüften des Zimmers gestillt sind, kann die therapeutische Begegnung beginnen. Meist wird mit Palliativpatienten im Bett sitzend gemalt, plastiziert oder gemeinsam ein Bild betrachtet, im Durchschnitt für rund 20 Minuten.

Spezifische Übungen mit kleinen Mengen Tonerde oder mit Aquarell- und Pastellfarben auf kleinformatigem Papier reichen dem Patienten die Hand, sich kunsttherapeutisch selbst in die Ruhe zu leiten. Eine sinnliche und als positiv oder sinnvoll erlebte Farben- oder Tonerfahrung verbindet den Menschen wieder mit seiner körperlichen, seelischen und/oder geistigen Eigenwelt. Die Besinnung auf ein kurzes, doch intensives künstlerisches Erlebnis kann Zuversicht, Erfüllung und Beruhigung mit sich bringen. Neben der aktiven Kunsttherapie bietet sich auch die rezeptive Kunsttherapie an.

Die wahren Bedürfnisse von Patienten in palliativer Situation sind, insbesondere bei starker Unruhe, nicht leicht zu erkennen. Andererseits ist die oftmals vorhandene seelische Empfänglichkeit für kunsttherapeutische Angebote ein Auftrag an die Therapeuten, hier besonders aufmerksam und geistesgegenwärtig Gelegenheiten zu schaffen, die die schöpferischen Quellen des Patienten anregen.

Therapeutische Empfehlungen bei gedanklicher Unruhe

Bei Gedankenkreisen, übermäßigem Grübeln und Nerven-Sinnes-System bezogener Nervosität:

  • Eine kleine Tonmenge in beide Hände geben und mit den Fingerkuppen und sanftem Druck formen und drehen lassen. Nach wenigen Minuten entsteht wie von selbst eine Kugelform. Wenn möglich, diese Übung mit herabhängenden Armen durchführen; das verstärkt die Ableitung von Unruhe und Nervosität.
    Symmetrisches Arbeiten, d. h. mit beiden Händen gleichzeitig, hat zudem eine stabilisierende Wirkung. 
  • Eine kleine Tonmenge in die eine Handinnenfläche (Herzraum der Hand) geben und den Patienten bitten, abwechselnd und rhythmisch mit dem sanften Druck beider Handinnenflächen eine Kugel zu formen. Dabei den Ton im Schoss, in der eigenen Körpermitte, haltend. „Ich habe eine Kugel gemacht und war glücklich.“ (1)
  • Ein Backblech mit Sand gefüllt als Grundlage einfacher Formen“zeichnen“-Übungen, die ein ebenfalls haptisches Erlebnis ermöglichen.

Anregen der sinnlichen Wahrnehmung durch Tasten, Sehen, ggf. Riechen von aus der Natur mitgebrachten Gegenständen wie z. B. Blüten, Blätter, Muscheln, Zapfen, Steine ...

Therapeutische Empfehlungen bei Gefühlsunruhe

  • Malen mit Pastellkreide und Fingerkuppen, wofür die Kreide in einem kleinen Behälter dem Patienten vorgesiebt gereicht wird. Papierformat: 20 x 20 cm.
    - Blautöne in bedächtigen kleinen – zu sich kreisenden – Bewegungen in das Papier einmassieren und mit einem spielerisch gebildeten blauen Farbzentrum abschließen. Die kreisenden Bewegungen in Richtung der eigenen Herzregion hin wird von vielen Patienten als angenehm empfunden.
    - Die Übung kann auch mit Rottönen durchgeführt werden, wenn Patienten das wünschen und die Wärmebildung angeregt werden will.
    - Freie Farbwahl berücksichtigen, dennoch raten wir von der Verwendung von Gelb als Einzelfarbe oder vielen Farben bei unruhigen Patienten ab. Gelb ist eine Option, das entstandene Blaubild in ein belebendes Grünbild zu verwandeln.

  • Malen mit Aquarellfarbe auf kleinem Papierformat (z. B. 20 x 20 cm).
    - Blautöne (z. B. Ultramarin) in langsamen horizontalen Bewegungen malen hilft, die Atmung zu harmonisieren. Farbe am unteren Bildrand ggf. intensivieren, nach oben hin transparenter ausführen (siehe Abbildung unten).
    - Blau kann auch als Hülle gemalt werden, indem ein sich rundender Farbauftrag den Blattrand intensiviert.
    - Beide malerische Gesten können auch mit Rottönen durchgeführt werden, wenn Patienten das wünschen und die Wärmebildung angeregt werden will.
    - Freie Farbwahl berücksichtigen, dennoch raten wir von der Verwendung von Gelb als Einzelfarbe oder vielen Farben wir bei unruhigen Patienten ab. Gelb ist eine Option, das entstandene Blaubild in ein belebendes Grünbild zu verwandeln.

Abb.: Bildbeispiel zur Übung mit blauer Aquarellfarbe auf kleinem Format

  • Das Bilddiktat (2): Die Therapeutin übernimmt das Malen für den Patienten, der die Farben auswählt und ihre Position im Bild angibt. Die Bildentstehung profitiert von der sozialen Interaktion und menschlichen Beziehung und mindert die Gefühlsunruhe.
  • Freies Malen. Je nach Art der Unruhe ggf. gemeinsam überlegen, ob gegenständlich
    – haltgebend im Motivischen – oder ungegenständlich – befreiend in der Bewegung; je nach Möglichkeiten des Patienten und der Materialwahl. Ggf. Unterstützung für einfache Motivwahl wie Himmel, grüne Wiese oder Landschaft.

Therapeutische Empfehlungen bei motorischer Unruhe

  • Das Bilddiktat (siehe oben)
  • Rezeptive Kunsttherapie: Gemeinsame Bildbetrachtung zum Beispiel zu den Fragen „Was sehe ich? Was fühle ich? Was spricht der Maler/das Motiv im Bild oder in der Skulptur aus?“
    Die Beschäftigung mit einem künstlerischen Werk in der eigenen Betrachtung, Empfindung und im Befragen seiner Intention gehört zu den Kunst genießenden Aktivitäten.
    Wir fragen den Patienten nach einem Bild oder einer Plastik, die vielleicht im Laufe des Lebens für ihn eine besondere Bedeutung hatte. Andererseits bieten wir aus der Kunstgeschichte oder Erfahrung bekannte, heilsam wirkende oder sinnstiftende Kunstwerke zur Betrachtung an. So sind die Bilder des Isenheimer Altars ebenso geeignet wie die kontemplativen Tagesstimmungen oder einige Landschaften Caspar David Friedrichs, die Bildmeditationen von Alexej Jawlensky, die symbolreichen Malereien von Marc Chagall oder auch Bilder anthroposophischer Maler sowie die Skulpturen von Ernst Barlach. Selbstverständlich gibt es weitere geeignete Kunstwerke, die Kunsttherapeuten aus ihrer individuellen Erfahrung heraus zum Einsatz bringen sollten.

Rezeptives Kunsterleben rückt in das Interesse von Forschung. Einer 2019 veröffentlichten Längsschnittstudie zufolge senkt regelmäßiger Musik- und Kunstgenuss die Mortalität bei älteren Menschen um bis zu 31 Prozent (3).

Literaturverzeichnis

  1. Kleinrath U, Bertram M. „Ich habe eine Kugel gemacht und war glücklich“. Die Kugel als Aufgabenstellung in der Kunsttherapie. In: Bertram M, Kolbe HJ (Hrsg.) Dimensionen therapeutischer Prozesse in der Integrativen Medizin. Wiesbaden: Springer Fachmedien; 2016, S. 145-154.
  2. Herborn E. Das Bilddiktat in der Kunsttherapie. In: Gruber H, Reichelt S (Hrsg.) Kunsttherapie in der Palliativmedizin. Berlin: EB Verlag; 2016. 
  3. Fancourt D, Steptoe A. The art of life and death: 14 year follow-up analyses of associations between arts engagement and mortality in the English Longitudinal Study of Ageing. British Medical Journal 2019; 367:l6377. DOI: https://doi.org/10.1136/bmj.l6377.[Crossref]

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

Weiterführende Informationen zur Anthroposophischen Medizin