Assistierter Suizid

Matthias Girke, Philipp von Trott zu Solz

Letzte Aktualisierung: 25.11.2020

Der Wunsch nach assistiertem Suizid (physician assisted suicide, PAS) ist in Diskussion und nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland auch geschäftsmäßig arbeitenden Organisationen nicht untersagt. In mehreren Ländern der Europäischen Union (Holland, Belgien, Luxemburg) und auch weltweit (Schweiz, Kolumbien, Kanada, USA) ist das Verbot zugunsten einer selbstverfügbaren Patientenautonomie seit langem aufgehoben. Die Häufigkeit dieser Form des Sterbens liegt zwischen 0,3 % und 4,6 % aller Todesfälle und nahm nach der Legalisierung zu. Menschen, die sich den assistierten Suizid wünschten, sind oftmals älter und gut ausgebildet. Schmerzen werden meist nicht als primäre Motivation genannt (1). Vielmehr sind – einer Untersuchung aus Deutschland zufolge – der Verlust der Lebensperspektive bei schwerer Erkrankung, die Angst vor der Langzeitpflege und die Müdigkeit des Lebens häufige Gründe für den Suizid (2). „Dabei waren 71 % der Verstorbenen Frauen, 67 % waren 70 Jahre oder älter, 25,6 % litten an metastasiertem Krebs, 20,5 % hatten eine schwere neurologische Erkrankung. 23 % litten an altersbedingten Krankheiten oder Behinderungen. 14,5 % der Verstorbenen hatten eine vorherrschende psychiatrische Diagnose, 7,7 % waren körperlich und geistig gesund.“ (2)

Der Wunsch nach ärztlich assistiertem Suizid ist medizingeschichtlich nicht neu. Seit dem 16. Jahrhundert führte der meist von Laien geäußerte Wunsch nach Sterbehilfe zu gesellschaftlich-wissenschaftlichen Debatten mit professionell Handelnden wie Pflegenden und Ärzten, deren Ergebnisse nicht zuletzt die Palliativversorgung voranbrachte. Allerdings wurde im Dritten Reich die Euthanasie instrumentalisiert und somit ein Weg zur absoluten Unmenschlichkeit im Umgang mit Leben und Sterben gebahnt.

Während die einen die Legalisierung des assistierten Suizids als lang ersehnte Möglichkeit sehen, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, befürchten andere eine Rückfälligkeit in Zeiten der Euthanasie und Verfügbarkeit menschlichen Lebens. Dabei bestehen Fragen, die unterschiedliche Dimensionen berühren. So steht hinter jedem Suizidwunsch und jeder Suizidabsicht eine Not. Diese zu erkennen, ist Aufgabe einer differenzierten Begutachtung und Beratung. Wenn der Suizidwunsch Ausdruck einer hintergründigen Not ist, so sollte er nicht als frei und autonomiegelenkt aufgefasst werden, sondern als eine notgetriebene Handlungsabsicht. Insofern besteht die Antwort nicht in der Auslöschung menschlichen Lebens, sondern in der Abhilfe der Not. Durch eine vertrauensvolle und kompetente Begleitung kann es gelingen, diese zu lindern, Unterstützung anzubieten, andere Perspektiven zu ermöglichen, Situationen zu verändern und zur Prävention beizutragen.

Grundsätzlich gehört die Durchführung der Suizidassistenz nicht zu den Aufgaben der Palliativ- und Hospizversorgung. Umgekehrt sollten aber alle Menschen mit Suizidwunsch ein Recht auf palliativmedizinische Beratung (und Hilfe) haben. Dabei sind die Angehörigen, bzw. die Nahestehenden, nach Möglichkeit in die Beratung zu den Fragen des assistierten Suizids, der Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des entsprechenden Wunsches, einzubeziehen. Denn eine Selbsttötung als notgedrungener Handlungsvollzug erfolgt nie für sich allein, steht in Zusammenhang mit dem Umkreis und hat für diesen erhebliche Konsequenzen. Denn: Mit den Spuren, die der Suizidwillige hinterlässt, müssen nicht nur er, sondern auch die Überlebenden leben. Die sozialen Umstände und die Beziehung zu Angehörigen, bzw. dem jeweiligen Menschenumkreis, sind ein wichtiges Kriterium für das Verstehen des leidenden Menschen, aber auch zur Erkennung der Not selbst.  Aus palliativmedizinischer Sicht stellt sich vor diesem Hintergrund die weitergehende Frage: Ist der durch eigene Hand herbeigeführte Tod auch ein „guter Tod“, ein Tod in Würde?

In der öffentlichen Diskussion werden gegenüber den kritischen Stimmen zum assistierten Suizid oftmals ausweglos erscheinende Situationen beschrieben, die den assistierten Suizid als einzige Möglichkeit ausweisen und „plausibel“ machen. Ihn zu versagen grenze aus dieser Perspektive an „unterlassene Hilfeleistung“ und wäre auch nicht mit dem Hippokratischen Gebot des „nicht Schadens“ vereinbar. Denn jeder herausgezögerte Tag wäre ein unmittelbarer Schaden für den Patienten. Diese herausfordernden Situationen brauchen durch ihre individuelle Situation auch eine individuelle Antwort. Oftmals ist durch eine gute Betreuung und ein verlässliches Vertrauensverhältnis eine Leidensminderung möglich, die nicht im assistierten Suizid als einem als „würdelos“ empfundenen Tod, um nicht zu sagen „Einschläferung“, besteht. Allerdings wird sich nicht immer und in ausreichendem Maße ein vertrauensvolles Verhältnis zum Menschenumkreis und den Behandlern entwickeln. In diesen Situationen ist dann nicht ein Rechtsanspruch auf assistierten Suizid hilfreich oder einzufordern, sondern eine fachlich und ethisch kompetente Betreuung, ggf. unterstützt durch den begleitenden Menschenumkreis. Ein oft zitiertes Beispiel ist die amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die zur vollständigen Lähmung – auch der Atmung – bei vollem Bewusstsein führen kann. Diese auf den ersten Blick schnell überzeugende Begründung für den assistierten Suizid relativiert sich durch gegenläufige Einschätzungen von betroffenen Patienten: So entscheidet sich ein kanadischer Hausarzt, der mit ca. 42 Jahren an ALS erkrankte, gegen den assistierten Suizid und für das Leben mit der schwer einschränkenden und belastenden Erkrankung. Gründe sind das liebevolle Verhältnis zu seiner Ehefrau, der Menschenumkreis und die äußeren, auch wirtschaftlichen Möglichkeiten für ein Leben, das anderen nicht zur Last fällt. (3) Damit wird die Bedeutung der zwischenmenschlichen und sozialen Dimension der Entscheidungsfindung deutlich. Suizidwunsch ist nicht nur die Artikulation einer krankheits- oder anderweitig bedingten Not, sondern auch eine soziale Frage, die sich nicht nur an den Einzelnen, sondern an die gesamte Gesellschaft richtet. Um den Menschen sinnstiftend zu begleiten, sind wir in dieser Frage nicht nur als Therapeuten, sondern auch als Menschen gefordert.

Drei Dimensionen

Drei Dimensionen sind im Umkreis des assistierten Suizids entscheidend: Sinnverlust, mangelnde seelische Begleitung mit dem Gefühl, anderen Menschen zur Last zu fallen und die Angst vor nicht zu ertragenden Krankheitsfolgen liegen vielfach dem Wunsch nach aktiver Sterbehilfe zugrunde – und nicht real bestehende und unkontrollierbare somatische Symptome, wie man vielleicht meinen würde (2).

  • Die erste Dimension bezieht sich auf die individuelle Sinnfindung. Es werden keine Perspektiven mehr gesehen und der Zweifel an der Sinnhaftigkeit der leidbelasteten Lebensphase gewinnt an Macht. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl (1905 – 1997) beschrieb als Holocaust-Überlebender demgegenüber die Sinnsetzung in leidvoller Zeit mit den an Friedrich Nietzsche angelehnten Worten: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“ (4). Es kommt darauf an, in die Eindimensionalität und Ausschließlichkeit des Suizidwunsches neue Perspektiven zu entwickeln. Notgetriebener Suizidwunsch ist niemals frei und verengt röhrenförmig das Blickfeld auf die dann einzig noch in Frage kommende „Lösung“: den assistierten Suizid. Demgegenüber wirken neue Perspektiven und Sinnsetzungen befreiend, denn „der Selbstmord ist ein Nein auf die Sinnfrage“ (Frankl). Mit dem Sinnverlust verliert der Mensch die sinnsetzende Beziehung zu sich selbst. Denn Sinnsetzung ist individuell und nicht generalisierbar. Es sind „meine“ Sinn- und Wertsetzungen in der Biografie. Sinnfindung bedeutet ein wieder „nach Hause kommen“, also Anschluss an die eigene Individualität und ihr Schicksal zu erlangen. "Jede Person ist neu, einmalig, unersetzbar, und meine Person und der Sinn korrespondieren miteinander." (Frankl). Aus jeder Sinnsetzung, schon aus ersten und einfachen Antworten auf das „Warum“, entstehen Kräfte, den weiteren Weg zu gehen, neue Werte zu entwickeln und zu entdecken. Im Hölderlinschen Sinne gilt: Denn wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

  • Die zweite Dimension ist die zwischenmenschliche Beziehung. Wenn der Patient Zuwendung und eine Bejahung seiner Situation erfährt, werden neue Werte erlebt und der Wunsch nach assistiertem Suizid nimmt sich zurück. Die Eigen- und Selbsterfahrung entwickelt sich in der Begegnung mit dem anderen Menschen. Sinn- und Bedeutung der eigenen Existenz werden vom Umkreis erfahren. Schon die Bezeichnung „Bedeutung“ enthält das Deuten und damit eine Tätigkeit, die nicht ein Selbstbedeuten meint, sondern vom Umkreis vollzogen wird. Die Bedeutung eines Menschen ist ihm selbst oft nicht bewusst, sondern wird vom Umkreis gespürt und besonders dann erlebt, wenn ein Abschied naht oder vollzogen worden ist. Der Mensch wird am Du zum Ich, wie es Martin Buber beschrieb. Ohne diese Ich-Werdung im Zusammenhang mit dem anderen Menschen erlischt Lebenskraft und das Gefühl, eine Aufgabe zu haben, gebraucht zu werden. Der Wunsch nach assistiertem Suizid ist dann eine begreifliche Folge. Der Angst schwerkranker bzw. älterer Menschen vor einem unwürdigen und leidvollen Sterben in Pflegeheimen, in Krankenhäusern oder auch zuhause hat vor diesem Hintergrund soziale Konsequenzen bis zur wirtschaftlich adäquaten Ausstattung betreuender Einrichtungen und ist ein Appell für eine flächendeckende Palliativ- und Hospizversorgung. Der Wunsch nach Hilfe zur Selbsttötung ist ein Aufruf zur Entwicklung von Mitmenschlichkeit. Es geht dabei nach Cicely Saunders (1918 – 2005) – Begründerin der modernen Hospizbewegung und der Palliative Care – um die Elimination von Leid, nicht um diejenige des leidtragenden Menschen im Sinne eines „tödlichen Mitleids“ (5). Hierzu helfen positive Beziehungen, in denen Wertschätzung des anderen und Dankbarkeit für sein Dasein leben.

  • Die dritte Dimension ist eine fachlich kompetente (ggf. palliativ-)medizinische Behandlung. Durch die medikamentöse Therapie lassen sich in der modernen Palliativmedizin die meisten Symptome kontrollieren. Voraussetzung ist ein integrativer Therapieansatz, der dem Patienten mehrdimensional gerecht wird. Die anthroposophische Palliativmedizin verfügt hier über umfangreiche Erfahrungen. Besondere Bedeutung haben neben der Arzneitherapie die Äußeren Anwendungen der anthroposophischen Krankenpflege und die verschiedenen Formen der Körpertherapie. Die Kunsttherapien öffnen das seelische Erleben und wecken die innere Aktivität des Patienten. In der Gesprächstherapie werden Fragen nach den individuellen Werten und biographischen Zielsetzungen des Patienten aufgegriffen, einschließlich der spirituellen und religiösen Überzeugungen des Patienten sowie Fragen zu Schicksal oder Nachtodlichkeit. Das entscheidende Merkmal der anthroposophischen Palliativmedizin ist die Orientierung an der Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit des Menschen, dessen seelisches und geistiges Wesen nicht an die leiblichen Grenzen von Geburt und Tod gebunden ist.

Für weitere Informationen siehe https://www.anthromedics.org/PRA-0561-DE 

Ethische Aspekte

Um das leisten zu können, kommt es auf eine aktiv ergriffene professionelle und ethische Entwicklung der Behandler und Unterstützung der Begleiter an. Als professionelle Behandler fragen wir uns, ob die ethische Professionalität in gleichem Maße ausgebildet ist wie die medizinisch-professionelle. Die Grundsäulen der Patienten-Arzt-Beziehung bestehen in der Palliativmedizin nicht nur in professioneller Kompetenz und empathischer Beziehungsgestaltung, sondern auch im therapeutischen Engagement. Sobald der Patient diesen Willen zum Heilen und zur Hilfeleistung erfährt, fühlt er sich auf seinem Weg unterstützt und kann neue Perspektiven entwickeln. Die Erfahrung zeigt, dass der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe dann oft schwindet.

Das Thema assistierter Suizid berührt den Kern eines ärztlichen und therapeutischen Selbstverständnisses, das dem Menschen in jeder Phase seines Lebens, auch und gerade in der palliativen Situation, Raum für seelisch-geistige Entwicklung zugesteht. Das Thema hat moralisch-ethische Aspekte, die berücksichtigt werden müssen. So wird ein ärztlicher Kollege durch die Bereitstellung von Natrium-Pentobarbital in den Prozess und das Schicksal des Betroffenen einbezogen und mit einer Aufgabe konfrontiert, die mit seinem ursprünglichen Heilungsauftrag nichts zu tun hat (6). Es ergeben sich in diesem Bereich Heraus- und Anforderungen an Ärzte und Begleitende, die letztlich jeder einzelne mit seinem Gewissen vereinbaren muss. Dabei ist die palliative Patientenbetreuung vom Menschenverständnis abhängig. Geht es ausschließlich darum, bei einem sterbenskranken Menschen belastende Symptome zu kontrollieren? Oder können auch am Lebensende noch zukunftsfähige Perspektiven entwickelt werden? Wird der Patient seelisch-geistig begleitet und unterstützt? Dafür braucht es neben einer symptomorientierten Behandlung auch in dieser Situation einen salutogenetischen Ansatz, der nach den individuellen Ressourcen des Patienten fragt. Zum anderen müssen Menschen spüren, dass sie in Phasen von Zweifel, Ablehnung und existenzieller Angst nicht allein sind und seelisch unterstützt werden. Drittens lebt jeder Mensch – und erst recht der palliativ erkrankte Patient – von Perspektive und Hoffnung, also von der Zukunftsfähigkeit des Menschen. Diese Haltung muss von den Ärzten und Pflegenden glaubwürdig vermittelt werden. Ein somatisch orientiertes Menschenbild wird im assistierten Suizid den Erlösungsaspekt sehen. Ein leiblich, seelisch und geistig orientiertes Menschenverständnis muss demgegenüber weitere Dimensionen einschließen und in der Biografie – im Unterschied zum hedonistischen Lebensverständnis – eine Entwicklungsdimension und Aufgabenstellung sehen. Wenn das eigentliche, geistige Wesen des Menschen unzerstörbar und nicht mit seiner somatischen Dimension und Endlichkeit identisch ist, so stellen sich die Fragen der Prä- und Postexistenz. Geburt und Tod sind dann nicht Start- und Endstationen, sondern Orte des Übergangs und der Schwelle, die einer besonderen ethisch-spirituellen Aufmerksamkeit und Begleitung bedürfen. Handeln im Umkreis des Todes ist dann von besonderer Verantwortlichkeit geprägt, zumal die vereinfachende Vorstellung eines bewusstlosen Finums nicht nur vor dem Hintergrund der zahlreichen Nahtoderfahrungen, sondern auch der jahrtausendealten Weltanschauungen und Lebensüberzeugungen den hier bestehenden ethischen Fragen nicht gerecht wird. Auch wandeln sich die Einschätzungen des Woher und Wohin des Menschen in der Biografie: Viele Kinder erinnern sich an eine Vorgeburtlichkeit (7); über das gesamte Leben verteilt und schon in der Kindheit beginnend, wird von den Nahtoderfahrungen berichtet als Hinweise auf die Nachtodlichkeit (8). Wachen und Schlafen, aber auch die zu Ende gehenden, „sterbenden“ Lebensphasen und wieder neu beginnenden werden zu Bildern für die großen Wendepunkte des Lebens, für Geburt und Tod, für ein Hier und Drüben. Sie geben diesen eine besondere Würde, Verständnistiefe und damit die spirituell-ethische Basis. Wie wir die Schwangerschaft als Vorbereitungs- und Entwicklungsweg des werdenden Menschen kennen, so ergibt sich die Notwendigkeit, auch vor dem Todesaugenblick eine Entwicklungszeit zu sehen. Wir unterscheiden hier den Sterbeprozess von dem Todesaugenblick. Beides ist ausgesprochen individuell gestaltet, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und bekommt mit der Prägung durch die Individualität unantastbare Würde.

Autonomie entwickeln: Selbstwerdung und Autogenese

Während äußerlich betrachtet eine leid- und schmerzbelastete Erkrankungsphase endlich zu Ende gehen sollte, so dass der Patient „erlöst“ werde, ergeben sich für die seelisch-geistige Perspektive ganz andere Aspekte.  Versteht man den Menschen als ein geistbegabtes, auf Zukunft und Entwicklung angelegtes Wesen in einem sterblichen Leib, so nimmt man durch den assistierten Suizid dem Patienten das Wesentlichste, nämlich die Chance von Entwicklung, Selbstwerdung, also Autogenese. Wir sind oftmals Zeuge erstaunenswerter Entwicklungen in der palliativen Erkrankungsphase oder generell in der Zeit des Sterbens: Patienten verfügen plötzlich über viel Zuversicht und Energie; aber auch belastende Emotionen können zunehmen. Immer wieder wird phasenweise eine andere Realitätsebene wahrgenommen (9). Einer Schweizer Studie zufolge werden diese Erfahrungen am Lebensende als Quelle spirituellen Trosts für Sterbende und Angehörige empfunden.

Abb. 1: Ja-Antworten auf die Frage: „Haben Sie bei Patientinnen/Patienten während den letzten Lebenswochen eines der folgenden Phänomene beobachtet“ (9)

Die Zeit der Sterbevorbereitung, also im weiteren Sinne des Sterbeprozesses, beginnt manchmal unbemerkt vom Betroffenen selbst als auch von seinem Umkreis. Erst im Rückblick wird dann deutlich, wie ein Sterbender sich vielleicht noch von vielen Menschen verabschiedet hat, um dann zu gehen. Andere Menschen ahnen mit verblüffender Genauigkeit das kommende Schicksal und manchmal auch den Todeszeitpunkt (9). Sie sprechen dann von ihm als einem wesentlichen Augenblick der Geburt, der im Zeitorganismus ihrer Biografie einen ähnlichen und zu ihnen passenden Augenblick darstellt, wie die Geburt. Assistierter Suizid verhindert diese Entwicklungen. Möglicherweise kann die scheinbare Beendigung von Schmerz und Leiden neuen Schmerz, ein Gefühl des Verlustes, der Entbehrung und des Leidens nachtodlich mit sich bringen. Das Leid wäre dann lediglich verschoben, möglicherweise sogar in einen dafür nicht vorgesehenen Bereich. Vieles wird in seinem eigentlichen Wert erst dann erkannt, wenn man sich von ihm trennen muss oder es verloren geht. Endgültigkeiten, die kein Zurück kennen, können besonders schmerzhaft sein.

Wir erleben immer wieder Patienten mit Sterbewunsch, auch in einem anthroposophischen Krankenhaus. Die Erfahrung zeigt, dass sich dieser Wunsch durch eine gute palliative und hospizliche Therapie sowie seelische und geistige Unterstützung fast immer in neue Sinnsetzungen und neu errungene Autonomie wandeln kann. Der Patient ist dann nicht krank, sondern hat die Erkrankung, erlebt sich selbst als autonomiebefähigt, auch in der palliativen Erkrankungsphase und in einer Zeit mit vielleicht maximaler Abhängigkeit. Ihm ist dadurch keinesfalls seine Würde genommen, weil er „unwürdigem Leiden“ ausgeliefert ist. Vielmehr gewinnt er sie in besonderer Weise gerade in dieser Erkrankungsphase. Für eine Palliativmedizin, die sich am Menschen und seiner Entwicklungsfähigkeit auch in der späten Erkrankungsphase orientiert, ist der assistierte Suizid keine Option. Stattdessen geht es darum, den Menschen in seinen körperlichen, aber auch seelischen und geistigen Bedürfnissen intensiv zu begleiten. Selbstverständlich ist in seltenen Fällen bei einem nicht kontrollierbaren Beschwerdebild die palliative Sedierung erforderlich. Ein aktives Helfen beim Sterben gehört allerdings auch in dieser Situation nicht zu den notwendigen Instrumenten.

Praktische Gesichtspunkte bei Wunsch nach assistiertem Suizid

In mehreren europäischen Ländern, aber auch weltweit wurde der assistierte Suizid unter bestimmten Bedingungen legalisiert. Insofern bedarf es eines kompetenten Beratungsangebotes für Menschen mit Wunsch nach assistiertem Suizid, das die unterschiedlichen Perspektiven, ethischen und spirituellen Gesichtspunkte einschließt. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir retrospektiv, dass die Kontrollmechanismen, die ursprünglich dem PAS vorausgehen müssen, in den Niederlanden und Belgien in zunehmendem Masse nicht mehr eingehalten worden sind: So wurden beispielsweise tödliche Mittel ohne das Einverständnis des Patienten verabreicht, es lag keine terminale Erkrankung vor und psychische Krankheiten blieben unbehandelt (10).  

In der S3-Leitlinie Palliativmedizin wird das Phänomen Todeswunsch sehr differenziert betrachtet. Insbesondere die Abstufungen von Lebenssattheit über Lebensmüdigkeit bis hin zum vollstreckten Suizid, sowie die Tatsache, dass ein Mensch mit Todeswunsch auch gleichzeitig einen Wunsch nach Leben in sich tragen kann, hilft beim Verstehen der oft ambivalenten Gefühle des Betroffenen. Den professionellen (palliativmedizinischen) Helfern wird explizit zu einer Haltung von Offenheit, Interesse und Respekt geraten, ohne notwendigerweise dem Todeswunsch zuzustimmen. Somit ist nicht immer das Ergreifen aktiver Maßnahmen notwendig, sondern vielmehr das „aktive Aushalten des Leidens“, das Beistehen. Es soll das „Vorliegen von Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit, Aussichtslosigkeit, Demoralisation und Glaubensverlust“ erfasst und behandelt werden (11). Hierfür ist eine menschenzugewandte Palliativmedizin notwendig und geboten.

Karl Jaspers spricht auch vom sogenannten Schicksalsgefährten: „Das Dasein eines vernünftigen Menschen mit der Kraft des Geistes und der überzeugenden Wirkung eines unbedingt gütigen Wesens weckt im anderen, und so auch im Kranken, unberechenbare Mächte des Vertrauens, des Lebenwollens, der Wahrhaftigkeit, ohne dass darüber ein Wort fällt. Was der Mensch dem Menschen sein kann, erschöpft sich nicht in Begreiflichkeiten.“ (12)

  • Gesprächsangebot schaffen: Es geht um das gemeinsame Verstehen der vorliegenden Situation und Leidensdruckes. Ist es Perspektivverlust? Leid im Erleben der eigenen Situation und in den Herausforderungen des Menschenumkreises („Ich falle meinen Angehörigen zur Last, so dass sie ihr Leben nicht mehr leben können“), unkontrollierte Symptome einer körperlichen oder seelischen Erkrankung? Für diese Gespräche braucht es die fachliche Kompetenz der verschiedenen Berufe, um den Betreffenden, seine Lebenssituation und seinen Umkreis besser zu verstehen und auch multiperspektivisch beraten zu können. Hierzu gehört die Berücksichtigung der Werte des Patienten, seiner spirituellen oder religiösen Überzeugungen aus einer Haltung des Helfen- und nicht Belehrenwollens.
    In Ländern mit Beratungspflicht muss bei beantragtem assistiertem Suizid fachliche – und zwar multiprofessionelle – ethische und spirituelle Kompetenz zur Verfügung stehen. Zu dieser gehören ein professionelles Gespräch zur Biografie des Menschen, individuelle Wertsetzungen, die das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden, spirituelle Perspektiven und Hilfestellungen bis zu Hinweisen auf geeignete Meditationen und Gebet. Denn: Sinn- und Wertesetzungen sind ideeller, nicht materieller Natur und brauchen deswegen geistige Förderung und Pflege.

  • Einbeziehung und Unterstützung des Menschenumkreises: Die soziale Dimension des Wunsches nach assistiertem Suizid muss geklärt werden. Betreuungsmangel und überforderte Begleiter signalisieren indirekt die Last, die der Betreffende seinem Umkreis „zumutet“. Es geht um Fragen der Unterstützung des Angehörigenumkreises und der begleitenden Menschen. Personalmangel und fachliche bzw. menschliche Überforderung müssen als verstärkende Faktoren erkannt und kompensiert werden. Anderenfalls stirbt ein Mensch durch veränderbare und veränderungspflichtige Bedingungen, die ihm die Sinnlosigkeit und Last seiner pflegebedürftigen Existenz signalisieren. Hier besteht ein erheblicher gesellschaftlicher Handlungsbedarf. Es braucht nicht nur ein ausgebautes Netz palliativer Betreuung, sondern auch Wertschätzung und Anerkennung menschlicher Zuwendung, pflegerischer Leistung und der Arbeit der in diesem Bereich wirkenden Institutionen (Altenheime, Pflegeeinrichtungen, Hospize). Der Wunsch nach Verfügbarkeit des assistierten Suizids ist vor diesem Hintergrund ein Ruf nach Menschlichkeit in Medizin, Gesundheitssystem, aber auch in der Gesellschaft.

  • Fachlich kompetente bzw. palliativmedizinische Betreuung ermöglichen: Die zum Teil erhebliche Symptomlast des palliativ erkrankten Menschen braucht eine flächendeckende Palliativmedizin. Sie kann die körperlichen Beschwerden meistens befriedigend lindern und sowohl dem seelischen Leid als auch den geistigen Sinnfragen begegnen.

Literaturverzeichnis

  1. Emanuel EJ, Onwuteaka-Philipsen BD, Urwin JW, Cohen J. Attitudes and Practices of Euthanasia and Physician-Assisted Suicide in the United States, Canada, and Europe. Journal of the American Medical Association/JAMA 2016;316(1):79-90.[Crossref]
  2. Bruns F, Blumenthal S, Hohendorf G. Organisierte Suizidbeihilfe in Deutschland: Medizinische Diagnosen und persönliche Motive von 117 Suizidenten. Deutsche Medizinische Wochenschrift 2016;141(4):e32‐e37.[Crossref]
  3. Sutherland F. Physician-assisted suicide from a patient’s perspective. Canadian Family Physician 2016;62(2):115.
  4. Frankl VE. Wer ein Warum zu leben hat. Lebenssinn und Resilienz. Weinheim: Beltz; 2017.
  5. Dörner K. Tödliches Mitleid. Zur sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens. 4. Aufl. Neumünster: Paranus Verlag; 2002.
  6. Stocker U. Sterbehilfe – Assistierter Suizid. Rechtliche, politische und moralisch-ethische Aspekte, inkl. Checkliste für Sterbehilfe-agTs. Master of Advanced Studies in Forensics (MAS Forensics) 08.2015. Verfügbar unter https://www.unilu.ch/fileadmin/fakultaeten/rf/institute/staak/MAS_Forensics/dok/Masterarbeiten_MAS_5/Stocker_Ursina.pdf (20.11.2020)
  7. Emmons NA, Kelemen DA. I've got a feeling: Urban and rural indigenous children's beliefs about early life mentality. Journal of Experimental Child Psychology 2015;138:106-125.[Crossref]
  8. van Lommel P, van Wees R, Meyers V, Elfferich I. Near-death experience in survivors of cardiac arrest. A prospective study in the Netherlands. Lancet 2001;358(9298):2039-2045. D[Crossref]
  9. Klein S, Kohler S, Krüerke D, Templeton A, Weibel A, Haraldsson E, Nahm M, Wolf U. Erfahrungen am Lebensende: Eine Umfrage bei Ärzten und Pflegenden eines Spitals für anthroposophisch erweiterte Medizin. Complementary Medicine Research 2018;25(1):38‐44.[Crossref]
  10. Sprung CL, Somerville MA, Radbruch L, Steiner Collet N, Duttge G, Piva JP, Antonelli M, Sulmasy DP, Lemmens W, Ely EW. Physician-Assisted Suicide and Euthanasia: Emerging Issues From a Global Perspective. Journal of Palliative Care 2018;33(4):197-203.[Crossref]
  11. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung. Leitlinienreport 2.1, 2020. AWMF-Registernummer: 128/001. Kap. 18.2.3. Verfügbar unter https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/ (20.11.2020)            
  12. Jaspers K: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze. München: Piper; 1958:177 ff.

Neues aus der Forschung

Phase IV-Studie: Kalium phosphoricum comp. bei Reizbarkeit und Nervosität Placebo überlegen
In einer neuen klinischen Studie wurde Kalium phosphoricum comp. (KPC) gegen Placebo an je 77 Patienten pro Gruppe getestet. Eine Post-hoc-Analyse der intraindividuellen Unterschiede nach 6 Wochen Behandlung zeigte einen signifikanten Vorteil von KPC gegenüber Placebo für die charakteristischen Symptome Reizbarkeit und Nervosität (p = 0,020 bzw. p = 0,045). In beiden Gruppen wurden 6 unerwünschte Ereignisse (UAE) als kausal mit der Behandlung zusammenhängend bewertet (Schweregrad leicht oder mittelschwer). Keine UAE führte zu einem Abbruch der Behandlung. KPC könnte daher eine sinnvolle Behandlungsoption für die symptomatische Linderung von Neurasthenie sein. Die Studie ist in Current Medical Research and Opinion frei zugänglich publiziert:  
https://doi.org/10.1080/03007995.2023.2291169.

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